Warum sie unsere Hymne nicht singen

Einige Vermutungen zum Auftakt der Fußball-Europameisterschaft

Warum sie unsere Hymne nicht singen
© Marvin800


Am Sonntag werden wir es wieder erleben: Vor dem Anpfiff zum ersten EM-Spiel gegen die Ukraine werden Neuer, Höwedes, Götze und Müller die deutsche Nationalhymne mehr oder weniger notensicher mitsingen. Doch Özil wie Boateng werden dabei schweigen, und Khedira auch, falls er nicht wieder vom Bundestrainer Löw zum Kapitän bestimmt wird und deshalb so tun als ob muss. Schweigen würden auch die verletzten Rüdiger, Gündogan und eigentlich alle anderen Fußballspieler der DFB-Mannschaft mit Migrationsherkunft.

Diese Tatsache mag vielen deutschen Fans nicht so wichtig erscheinen, aber sie ist doch einer näheren Betrachtung wert. Denn in anderen am Turnier teilnehmenden Nationalmannschaften, zum Beispiel der englischen, singen meist auch jene Spieler mit, deren Vorfahren eingewandert sind, die einen außereuropäischen Elternteil oder die keine weiße Hautfarbe haben. Es muss also spezielle Gründe haben, warum die türkischstämmigen Elitekicker Özil und Gündogan den Mund für unsere schöne Hymne über „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ebenso wenig aufmachen wollen wie die dunkelhäutigen Rüdiger und Boateng oder der in Deutschland geborene und aufgewachsene Khedira mit tunesischem Vater, deutscher Mutter sowie zwei Staatsbürgerschaften.

Würden einige der Spieler mit Migrationsherkunft die Hymne mitsingen und andere nicht, könnte das individuelle Gründe haben. Aber so ist es ja nicht: Denn sie singen augenscheinlich alle nicht und dokumentieren damit, dass sie sich, obwohl im begehrtesten Trikot der Fußballnation steckend, dieser irgendwie nicht zugehörig fühlen. Es gibt nicht wenige und offenbar immer mehr Deutsche, die das irritiert, die das nicht gut finden oder die das gar empört. Aber sind wirklich diese Spieler das Problem – oder ist es nicht vielmehr das Problem eines Staates und Volkes mit gebrochenem, zumindest aber verkorksten Verhältnis zur eigenen Identität?

Ich bin schon lange der Auffassung, dass das größte Integrations- und Assimilationshindernis in Deutschland nicht die Verweigerungshaltung vieler Migranten ist, sondern die zu schwache und oft genug auch völlig fehlende Identifikation der autochthonen Deutschen, insbesondere ihrer politischen Klasse, mit dem eigenen Land. Der regelmäßig alle zwei Jahre bei Europa- und Weltmeisterschaften aufflackernde schwarz-rot-goldene Kurzzeitpatriotismus ist nur ein oberflächliches Phänomen und ändert an diesem Befund nichts. Schon zwei Tage nach Ende eines Turniers, auch eines für die deutsche Mannschaft erfolgreichen, sind die Nationalfarben an den allermeisten Autos, Balkonen und Fenstern verschwunden.

Das zu tun ist schon deshalb ratsam, um nicht Gefahr zu laufen, das Eigentum von notorischen Deutschhassern beschädigt zu bekommen. Weltweit einzigartig dürfte sein, dass sich unter dieser Spezies in der großen Mehrzahl nicht etwa eingewanderte Personen mit Integrationsproblemen, sondern in der Regel autochthone Deutsche befinden. Seit dem Aufkommen von Pegida und AfD ist offenbar geworden, wie massiv gerade solche „Antideutschen“ und selbsternannte „Antifaschisten“ sich vielfältiger politischer, ja auch staatlicher Gunst und Förderung sicher sein dürfen.

Aber das ist nicht das eigentliche Problem, sondern nur ein Aspekt der mangelhaften oder gar fehlenden Identifikation der Deutschen mit dem Eigenen. Wer, wozu in den nächsten Wochen beste Gelegenheit sein dürfte, einmal genauer hinschaut, wie unlustig und allein von den lauernden TV-Kameras dazu genötigt, Bundestrainer Löw und sein migrantenloser Mitarbeiterstab ihre Nationalhymnenpflicht hinter sich bringen, bekommt einen keineswegs unrepräsentativen Eindruck der patriotischen Defizite von Spitzenkräften, die ihre hochbezahlten Jobs übrigens allein der Tatsache verdanken, dass es trotz aller Globalisierung noch Nationalmannschaften samt Fahnen und Hymnen gibt.

Doch wenn schon der Biodeutsche Löw sichtlich wenig Lust zum Singen hat – wie können dann der türkischstämmige Muslim Özil oder der Halbtunesier Khedira dazu motiviert werden? Und mag sich tatsächlich jemand vorstellen, Löw oder der supersmarte Teammanager Bierhoff könnten all die hymnenunlustigen Spieler mit Migrationsanteil schon einmal zum Mitsingen aufgefordert haben? Es wäre allerdings ein wenig unfair, das Löw und anderen zum Vorwurf in einem Land zu machen, dessen Bundekanzlerin die eigene Flagge peinlich ist und die beim Wort „Vaterland“ bezeugt zusammenzuckt.

Ja gewiss, es ist ein ständiges Ärgernis zu sehen, wie gespalten sich sie frühere Nationalmannschaft, die jetzt nur noch „Die Mannschaft“ genannt werden soll, beim Abspielen der Hymnen präsentiert - bei großen Turnieren vor den Augen von hunderten Millionen Menschen in aller Welt. Und es wäre natürlich längst angebracht, dass Fußball-Multimillionäre wie Özil, Boateng und andere aus eigenem Antrieb die Verbundenheit mit dem Land dokumentieren würden, das ihnen solche schwindelerregenden Karrieren überhaupt ermöglicht hat. Aber der tiefere Grund für das Ärgernis ist eine chronische patriotische Schwindsucht in den abgehobenen politischen, wirtschaftlichen, geistigen und künstlerischen „Eliten“ Deutschlands.

So lange diese Schwindsucht nicht geheilt ist, wird sich an den Szenen vor dem Anpfiff nichts ändern. Ich bin übrigens sicher, dass der DFB, Löw und nicht zuletzt Frau Merkel restlos alle Spieler zum Singen bringen würden, wenn nicht länger Nationalhymnen, sondern die Mannschaften aller teilnehmenden Staaten nur noch eine Globalhymne, natürlich in Englisch, schmettern würden. Bei einer solchen Entwicklung wäre „Die Mannschaft“ auch im Kollektivgesang ohne jeden Zweifel Vorbild für den Rest der Welt. Und ich wette einen hohen Betrag darauf: Wer dann nicht mitsingen wollte, flöge ganz schnell aus dem Kader!
 

Wolfgang Hübner

Leserkommentare (0)

Um einen Kommentar zu verfassen, loggen Sie sich bitte hier ein.
Falls Sie noch kein Benutzerkonto besitzen, können Sie sich hier registrieren.