Athen ist der falsche Feind!

Die politische Klasse Deutschlands gehört auf die Anklagebank

Athen ist der falsche Feind!
Creative Commons Wikipedia CC BY-SA 2.5 - Andreas Trepte, www.photo-natur.de


Ob Berliner Regierung, Leitmedien oder die veröffentlichte „Volkes Stimme“ – alle sind sich einig: In Athen ist der politische und ökonomische Wahnsinn ausgebrochen. Und deshalb wird im wirtschaftsstärksten Staat Europas wieder einmal jene Volks- und Gesinnungsgemeinschaft formiert, die bei anderen brennenden nationalen Themen wie Flüchtlingsstrom oder Islamisierung keine zwei Tage unter dem Dauerbeschuss der etablierten Mächte existieren könnte. Und nichts hat den Hass auf die demokratisch gewählte Regierung Griechenlands so eskalieren lassen wie deren Beschluss, eine kurzfristig anberaumte Volksabstimmung über Akzeptanz oder Ablehnung der Bedingungen der internationalen Kreditgeber durchzuführen. Denn in dem Europa der Herren Junker, Schulz, Schäuble und Merkel ist der Wille des Volkes ungefähr so erwünscht wie ein Frosteinbruch im Juli.

Deshalb werden alle propagandistischen Hebel in Bewegung gesetzt, um Tsipras, Varoufakis und Co. auf die Anklagebank zu setzen: Es handele sich um politische Hasardeure, Betrüger, Erpresser, ideologische Traumtänzer, linke resp. rechtspopulistische Radikale und manches mehr. Immerhin entgehen die Griechen, anders als das ebenfalls in Acht und Bann geschlagene Putin-Regime, derzeit noch dem extrem gefährlichen Vorwurf der Homophobie. Doch auch in der Beziehung lässt sich sicher noch etwas Brauchbares finden. Gewiss ist die derzeitige politische Führung Griechenlands mit kritischem Argwohn zu betrachten, jedenfalls aus der freiheitlich-konservativen Sicht des Verfassers dieses Textes.

Doch die Probleme, mit denen sie sich mit einer Mischung aus Verzweiflung und Trotz herumschlägt, die Probleme, die diese Regierung in Athen an die Macht gebracht haben - diese Probleme haben sowohl diejenigen verursacht, die Griechenland wider jene ökonomische und politische Vernunft in die Eurozone aufgenommen haben, wie auch diejenigen Kräfte in Athen, die viele Jahre mit tätiger Hilfe gerade auch Deutschlands Schulden über Schulden aufgetürmt haben, um sich selbst zu bereichern und um sich Wähler zu kaufen. Das entschuldigt gewiss nicht alles, was Tsipras und Co. tun oder nicht tun, gehört aber unverzichtbar zur Erklärung dessen, was nun geschieht. Die jetzige griechische Regierung ist die erste, die klar sagt, dass es weder für ihr eigenes Land noch für die internationalen Kreditgeber sinnvoll ist, alte Schulden mit immer höheren neuen Schulden abzulösen – und das in einem Land ohne nennenswerte Industrie, sprudelnde Ölquellen oder seltene Erden.

Damit aber berühren die Griechen einen sehr wunden Punkt der globalen Ökonomie, nämlich die gigantische, immer noch weiter wachsende Verschuldung. Ermöglicht wird sie mit der unaufhörlichen „Schöpfung“ von gedrucktem oder virtuellem Geld. Damit werden aus alten einfach neue Schulden, damit wird aber auch ein Wachstum geschaffen, das immer umfassender lediglich schuldenfinanziert ist. Jeder halbwegs vernünftige Mensch kann und muss erkennen, dass dieses Kettenbrief-System letztlich zum Scheitern verurteilt ist.

Für ökonomisch starke Länder wie Deutschland oder Staaten wie die USA oder Großbritannien, die noch ihr eigenes Geld herstellen können, wird dieser Zeitpunkt wahrscheinlich erst in der mittleren oder ferneren Zukunft kommen. Hingegen ist es für ein wirtschaftlich schwaches, dazu politisch und bürokratisch miserabel verwaltetes Land wie Griechenland schon längst Realität, im Schwitzkasten einer astronomisch hohen Verschuldung gefangen zu sein. Die Frage an die griechischen Wähler bei der Volksabstimmung am Wochenende ist ganz einfach: Akzeptanz der Bedingungen der internationalen Gläubiger und folglich noch mehr Schulden, noch mehr Ausweglosigkeit. Oder der unter den auf der Welt existierenden Machtverhältnissen hochriskante Ausbruch aus dem Verschuldungssystem mit allen Konsequenzen. Wer möchte da schon gerne seine Stimme abgeben? Es ist faktisch die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Doch wie immer auch das griechische Drama enden wird, dürfte es weder für die Wiege der europäischen Philosophie noch für EU-Europa ein Happyend geben. Denn mit jedem Jahr, jedem Monat und derzeit sogar mit jedem Tag bewahrheitet sich mehr die Prognose des verstorbenen kritischen Ökonomen Wilhelm Hankel: „Der Euro spaltet Europa und reißt es in den Abgrund.“ Leute wie Junker, Schulz und die anderen Charaktermasken in Brüssel und Straßburg leben sehr gut davon, diese Einsicht zu ignorieren. Und die politische Klasse in Berlin glaubt weiterhin, der Euro mitsamt seinen negativen Folgen sei im Interesse Deutschlands. Für immer größere Teile der Bevölkerung zwischen Flensburg in Konstanz ist das ein Hohn, denn prekäre Arbeitsverhältnisse und Niedrig- bzw. Mindestlohnsektoren sind auf dem Vormarsch.

Immerhin gibt es hierzulande noch schlecht oder unzureichend bezahlte Jobs. Die werden in ökonomisch weniger starken EU-Ländern verzweifelt gesucht und sind dort besonders für junge Leute einfach nicht vorhanden. Deswegen findet aus Ländern wie Spanien, Portugal, Irland und natürlich auch Griechenland ein Exodus von Menschen auf der Suche nach einer besseren Existenz statt – oft nach Deutschland. Noch glaubt die politische und mediale Klasse hierzulande, der große Profiteur dieser menschlich so fragwürdigen Entwicklung zu sein. Doch je offensichtlicher wird, wer daraus Nutzen zieht und wer den Schaden hat, desto angreifbarer, ja verhasster wird der ökonomische Riese in der Mitte Europas.

Das deutsche Volk selbst hat zum überwiegenden Teil keinen Nutzen: In einer aktuellen Veröffentlichung des nicht für linke Kapitalismuskritik bekannten Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin heißt es: „Die oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher haben in diesem Zeitraum (seit dem Jahr 2000) reale Einkommenszuwächse von mehr als 15 Prozent erzielt. Die breite Mittelschicht stagniert mit ihren Realeinkommen, während die unteren 40 Prozent sogar reale Einkommensverluste erlitten haben.“ Ferner wird festgestellt, dass die Kapital- und Unternehmereinkommen im Vergleich zu den Arbeitsentgelten deutlich gewachsen sind, weil die Lohnquote von 72,1 auf 68,1 Prozent gesunken ist. Hingewiesen wird in der DIW-Veröffentlichung auch darauf, dass im unteren Einkommensbereich die Renten seit Jahren nicht ausreichend an die Inflationsentwicklung angepasst wurden.

Bedrohliche innere und dramatische internationale Verwerfungen sind das Ergebnis von 15 Jahren Euro. Es zeugt deshalb von unerträglichem Zynismus, wenn die Kanzlerin der Profiteure dieser Fehlentwicklung sagt: „Scheitert der Euro, scheitert Europa“. Vielmehr scheitert der Teil Europas, der den Euro als Währung hat, gerade daran, sich für dieses Experiment entschieden zu haben. Einige Zeit glaubten alle beteiligten Staaten, dabei gewonnen zu haben. Das ist längst vorbei. Diejenigen, die vor alldem frühzeitig gewarnt haben wie Wilhelm Hankel und andere, stellte man kalt oder schob sie ab in die ‚rechte‘ Ecke.

Das fiel und fällt noch immer umso leichter, weil die 10 Prozent, die in Deutschland vom Euro und der EU-Politik profitieren, über praktische alle wesentlichen Kommunikationsmittel und -kanäle außer dem Internet Macht haben. Das ist der schlichte Grund dafür, dass nun die Griechen auf der Anklagebank sitzen, nicht aber die politisch und ökonomisch Verantwortlichen. Für das sich abzeichnende Desaster wird am schlechten Ende die Masse des Volkes einstehen und zahlen müssen.
 

Wolfgang Hübner

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