Rechtsstaat "siegt", Rechtsempfinden verliert

Täterschutz für einen Kindsmörder

Rechtsstaat "siegt", Rechtsempfinden verliert
© Daniel Rennen - pixelio.de

FREIE WÄHLER - Fraktion im Römer
Kommentare/Meinungen 16/2011


Im Namen des Rechtsstaates, doch gewiss nicht des Volkes ist am Donnerstag in Frankfurt dem verurteilten Kindsmörder Magnus Gäfgen eine Entschädigung von 3.000 Euro für eine „schwerwiegende Verletzung seiner Menschenwürde“ zugesprochen worden. Dieses Urteil, das nach geltendem Recht und Gesetz zustande kam, widerspricht gleichwohl dem natürlichen Rechtsempfinden der weit überwiegenden Mehrheit der Menschen in unserer Stadt und unserem Staat.   

Im konkreten Fall wird zutiefst das Rechtsempfinden auch derjenigen Menschen verletzt, die um den Unterschied von Recht und Gerechtigkeit wohl  wissen und die Konsequenzen daraus um des Rechtsstaates willen hinnehmen. Auch bei diesen Menschen sträubt sich alles dagegen, dass ein absolut skrupelloser Kindsmörder, Entführer und Erpresser nicht nur Polizeibeamte, die im Dienst alles und etwas mehr taten, um das Leben eines elfjährigen Jungen zu retten, vor Gericht zerren konnte und nun sogar noch „Schmerzensgeld“ bekommt. Dessen geringe Höhe ist dabei unerheblich, von Belang ist einzig, dass Gäfgen diese 3.000 Euro nach geltendem Recht und dem Spruch der 4. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt zustehen sollen.

Natürlich ist nun die Empörung unter der Bevölkerung groß, sie ist ja nur allzu  verständlich und berechtigt, wenngleich nicht rechtlich umsetzbar. Klar ist jedoch bereits einen Tag nach dem Urteil: Ansehen und Akzeptanz des  Rechtsstaates werden mit diesem Urteil weit mehr Schaden erleiden als Schaden verhindern. Das ist in krisenhaften Zeiten wie den unseren eine überaus gefährliche Entwicklung. Denn auch und gerade der Rechtsstaat ist keineswegs nur auf die Geltung von Paragraphen in dicken Gesetzeswerken angewiesen, sondern mindestens ebenso sehr auf die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger.  

In einer Frankfurter Zeitung wurde ein Bericht über das Gerichtsverfahren übertitelt mit: „Das Grundgesetz gilt auch für Mörder“. Diese Überschrift ist sachlich nicht falsch, deutet aber – sicherlich ungewollt – auf ein grundsätzliches Problem hin, dessen Behandlung und Lösung empörende Urteile wie das zugunsten des Mörders Gäfgen vermeiden könnten.

Artikel 146 des im Mai 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes lautet: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der furchtbaren Bilanz der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft war den wenigen Müttern und vielen Vätern des Grundgesetzes klar: Es wird die Zeit kommen, in der das deutsche Volk - und gemeint war sicherlich das ungeteilte deutsche Volk – sich eine neue Verfassung im Lichte neuer Erfahrungen und Erkenntnisse gibt.

Diese Zeit ist längst gekommen, eine neue Verfassung aber nicht in Sicht und  schon gar nicht in Absicht der derzeit dominierenden Parteien im Bund. Die haben sich zwar nie geniert, das Grundgesetz zu ändern und zu ergänzen, wenn ihnen das nützlich und notwendig dünkte. Manchmal war es auch der massive Druck bestimmter Realitäten, der zu Reparaturen zwang – erinnert sei nur ans Asylrecht in Artikel 16, das mit hässlichen Notoperationen in den neunziger Jahren eingeschränkt werden musste. Denn im Jahr 1949 war eine Situation, in der Millionen Menschen aus armen oder unterdrückten Staaten sich Deutschland als Ziel ihrer Träume von einem besseren Leben auswählen würden, schlicht unvorstellbar.

Ebenso unvorstellbar war es 1949, dass dereinst Kindesmörder sich auf Verletzung ihrer Menschenwürde aufgrund eines Verzweiflungsverhörs der Polizei berufen und damit auch noch vor Gericht gehen könnten. Wenn auf der Wand des Landgerichts in Frankfurt der erste Satz von Artikel 1 steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, dann ist diese plakative Heraushebung grundsätzlich richtig. Der folgende Artikel 2 sagt in Absatz 2 jedoch nicht weniger grundsätzlich: „Jeder hat das Recht auf Leben und Unverletzlichkeit.“  Magnus Gäfgen hat die Würde und das Leben eines Kindes nicht nur angetastet, er hat Würde wie Leben aus niedersten Motiven zerstört.

Es wäre mehr als überlegenswert, ob ein Mensch, der mutwillig, grausam und zweifelsfrei diesen Artikel 2 vollständig missachtet hat, die „Würde“ des Artikels 1 für sich in solch anspruchsvoller Weise wie Gäfgen in Anspruch nehmen darf. Und ist es nicht ein geradezu unerträglicher Widerspruch, dass der lebende Mörder eine „Würde“ einklagen kann, die seinem Opfer verwehrt ist, weil es tot ist? Der freiheitliche Rechtsstaat, und gerade er, hat allen Grund zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen. In der noch ausstehenden Verfassung könnten sich die Antworten darauf ablesen lassen.  

Das Frankfurter Urteil zugunsten des Kindsmörders ist auch der Tatsache geschuldet, dass die Lebenswirklichkeit 2011 eine andere ist als 1949. Es gibt eine ganze Reihe von Artikeln im Grundgesetz, die im Laufe der Jahre deshalb ergänzt oder verändert wurden. Der Fall Gäfgen zeigt, wie notwendig das gerade beim dem sehr interpretierbaren Begriff „Würde“ ist, damit „Würde“ nicht verlangen oder gar einklagen kann, wer ein wehrloses Kind ermordet hat, um seine Geldgier zu befriedigen. Wer hindert die Politik, zwischen der Würde des Täters und der des Opfers zu differenzieren, also das Grundgesetz zu ergänzen?

Wer das als Angriff auf den Rechtsstaat bezeichnet, muss wissen: Das Grundgesetz ist nicht von Gott gesandt, sondern von Menschen formuliert und muss von Menschen begriffen und befolgt werden. Das ist aber nur so lange möglich, so lange die Menschen in Deutschland verstehen, wie das Gesetz praktiziert wird und welche Folgen es hat. Wenn sie das – wie im vorliegenden Fall – nicht mehr verstehen, sondern sogar empörend finden, dann geht  das Vertrauen in den Rechtstaat und das Grundgesetz verloren.

All jene, die nun einmal mehr den Rechtsstaat gegen das „gesunde Volksempfinden“ verteidigen glauben zu müssen, sollten sich bewusst sein, dass das Recht wie das Geld ohne Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nur wertloses Papier ist.  

 

Wolfgang Hübner, 06. August 2011

Leserkommentare (7)

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Vorauszuschicken ist, dass in unserem demoratischen Rechtsstaat das Folterverbot uneingeschränkt gilt, und von Polizeibeamten auch nicht unter <berufung auf vermeintliche "Notstandssituationen" übertreten werden darf. Auch ein Täter und Schwerverbrecher hat Anspruch auf die respektierung seiner Menschenwürde durch den Staat. Dies ergibt sich aus Art. 1 unseres Grundgesetzes.

Kein Zweifel kann daher daran bestehen, dass sich der vernehmende Polizeibeamte Daschner seinerzeit durch das Androhen von Folter rechtswidrig verhielt.

Das Landgericht meinte, dem dadurch Rechnung tragen zu müssen, dass es den Staat als Daschners Dienstherrn zu Zahlung von Schmerzensgeld an Gäfgen verurteilte (§ 839 BGB, Art. 34 GG; § 253 BGB). Hieran sind jedoch Zweifel angebracht. Nach § 253 Abs. 2 BGB schuldet, wer einem anderen für die Verletzung u.a. des Körpers , der Gesundheit oder der Freiheit Schadenersatz zu leisten hat, dem Verletzten für den Nicht-Vermögensschaden "eine billige Entschädigung in Geld". Hierdurch soll der Verletzte etwa für die psychischen Auswirkungen eines Rechtseingriffs einen Ausgleich und Genugtuung erfahren.

Allerdings wird dieser Anspruch begrenzt durch das Kriterium der "Billigkeit". In dessen Rahmen sind auch ehrenwerte Motive des Täters oder eigenes, provozierendes Fehlverhalten des Opfers zu berücksichtigen. Gäfgen hatte Daschner gegenüber vorgetäuscht, das Entführungsopfer lebe noch. Daraus zog Daschner den Schluss, das Entführungsopfer könne noch gerettet werden, wenn er eine Aussage Gäfgens über den Aufenthaltsort des Entführten durch Androhung von Folter erpresse.

Die Rechtsprechung hat in einem Fall, der in der NJW (Heft 4/1990) veröffentlicht ist, die Zahlung von Schmerzensgeld wegen provozierenden Vorverhaltens des Opfers abgelehnt, bei dem ein betrogener Ehemann den im eigenen Haus in flagranti ertappten Ehebrecher heftig verprügelt hatte.In gleicher Weise hätte das Gericht vorliegend einen Anspruch Gäfgens auf Zahlung sog. "Schmerzensgeldes" ebenfalls ablehnen können (und sollen). Auf diesen Aspekt hat Heribert Prantl in einem lesenswerten Kommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 05.08.2011 hingewiesen.

Gäfgen wusste natürlich schon im Vorhinein genau, dass er angesichts seiner hohen Schulden aus Verfahrenskosten von einem erstrittenen Schmerzensgeld keinen Cent zu sehen bekommen würde. Ihm ging es auch gar nicht ums Geld. Vielmehr wollte er ein Urteil erstreiten, in dem ihm schwarz auf weiss bestätigt wird, selbst das Opfer des von ihm begangenen Verbrechens gewesen zu sein. Der Umstand, dass Gäfgen auch ca. neun Jahre nach seiner Verhaftung immer noch bar jeder Einsicht ist und nur mit sich selbst Mitleid hat, zeigt, dass er immer noch hochgefährlich ist. Dies wird zu berücksichtigen sein, sollte Gäfgen in Zukunft einmal einen Antrag auf Begnadigung oder vorzeitige Haftentlassung auf Bewährung stellen.



"Schmerzensgeld" bezöge sich in dem Fall auch auf die während der Drohung erlittene Angst vor der Folter. Insofern sprechen die Gerichte bei der Folterandrohung bereits vom einsetzen der Folter, da die Drohung "seelische Qualen" herbeiführt, und alleine die Drohung oft schon ausreicht, um eine Aussage zu erzwingen.
@J.Schüler: Das Gegenteil von gut gemeint ist gut gemacht. Dem Polizisten mußte bei der Vernehmung klar sein, dass er das komplette Verfahren riskiert, was um ein Haar auch geschehen wäre. Natürlich befindet er sich dabei in einer moralischen Zwickmühle, was ja letztlich auch entlastend gewirkt hat.

Bei Welt-Online bin ich über folgenden Nutzerkommentar gestolpert, dem ich unbedingt beipflichten muss:

"Unvergessen, wie der Polizei-Chef durch seine Versuche, das Opfer zu retten, seinen Job verlor.

Als dann Roland Koch ihm einen anständigen Job als Ersatz verschaffte, fielen die Grünen und Roten Gutmenschen über den Polizisten her, er sei ein Folterer und Koch beweise mit seiner Handlung, dass er für Folter sei.

Diese völlig abgehobene Täter-Orientierung und politische Verkommenheit erschreckte mich weit mehr, als das jetzige Urteil. "

Immerhin hat das Gericht dem Kindesmörder Gäfgen nur eine sogenannte Entschädigung und eben kein "Schmerzensgeld" zugesprochen, gefoltert wurde er ja richtigerweise sowieso nicht und das hätte man auch niemals im rechtsstaatlichen Sinne gutheißen können. Dennoch erschließen sich solche juristischen Feinheiten dem Normalbürger verständlicherweise nicht. Auch mir ist es ein Graus, daß sich ein kaltblütiger Mörder eines jungen Buben als "Opfer" gerieren darf und das auf Steuerzahlerkosten. Gäfgen ist kein Opfer, niemals gewesen, sondern ein elender Lump und Mörder eines unschuldigen und lebensfrohen Kindes. Er soll sich in seiner Zelle verkriechen und zumindest mir wäre es recht, wenn man bei ihm doppelt abschließt und seinen Zellenschlüssel fortwirft.

@DominikC
Würde man Ihrem Argument folgen, wäre auch die Todesstrafe für Schwerverbrecher legitim? Wenn man (was zutreffend ist) davon ausgeht, dass mindestens 5% aller in den USA gefällten Todesurteile Fehlurteile sind, weil sich im Nachgang durch verbesserte Beweisverfahren (vor allem im Bereich der Gentechnik) herausstellt, dass der Täter wirklich unschuldig war, so sind Menschen aufgrund einer richterlichen Fehleinschätzung unschuldig hingerichtet worden. Ähnlich verhält es sich mit der Folter. Wo wäre die Grenze zwischen guter und schlechter Folter? Welche Tat legitimiert Folter - ein Mord, eine Vergewaltigung, der Plan einen Anschlag mit Giftgas durchzuführen? Wann dürfte man foltern - wenn man sicher wüßte, dass der Täter der Täter ist, also erst nach einem Geständnis des Täters, ohne Preisgabe der letzten wichtigen Daten? Die Grundrechte sind unteilbar, sie gelten absolut - für jeden Menschen. Es hat immer wieder den Versuch gegeben, zuletzt nach den Anschlägen vom 11.9. auf das WTC, die Demokratie zu zwingen, ihre Standpunkte aufzugeben. Teilweise ist dies geglückt. Guantanamo brennt heute mehr im amerikanischen Selbstbewußtsein als die Anschläge selber. Wenn man das Folterverbot kippt, wird es nicht lange dauern, bis die ersten wirklich unschuldigen darunter leiden werden, weil die Polizei meint, unter dem Druck der Öffentlichkeit und der Medien unbedingt einen Schuldigen präsentieren zu müssen.

@ASchlueter:

Das seh ich anders, nach meinem Verständnis ist die Androhung von Folter in einem solchen Fall völlig legitim um bei den Ermittlungen voran zu kommen. Schließlich ging es damals um ein Menschenleben, da ist seine "Menschenwürde" völlig irrelevant.
Durch dieses Urteil haben wir wiedereinmal einen Präzedenzfall, der andere Täter animieren wird den "Rechtstaat" auszunutzen. Anstatt eine klare Ansage zu machen, dass Mörder, Vergewaltiger und sonstige Schwerstkriminelle kein Entgegenkommen zu erwarten haben, wird hier das "christliche Verständnis" absolut überstrapaziert und ganz im Gegenteil nicht ein funktionierender Rechtstaat präsentiert, sondern ein Staat der wie so oft Täterschutz vor Opferschutz stellt.
Ein Kindsmörder wie Gäfgen hat kein seine Menschenwürde und seine Rechte verwirkt.

Dem Bürger bleiben viele Entscheidungen der Justiz ihrem Sinn nach vollkommen verschlossen. Vor allem gilt dies für Urteile in Strafsachen, wo der Täter dem Volksempfinden nach oft zu lasch bestraft wird. Nur ist es eben gerade unserem christlichen Verständnis zu verdanken, dass wir auch in einem Straftäter immer noch den Menschen sehen, und keine Bestie, die es auf ewig wegzusperren gilt. Daß dabei mitunter auch die Geduld der Geduldigsten im Falle von Intensiv- oder Wiederholungstätern aufs äußerste strapaziert wird, liegt auf der Hand.
Im Fall Gäfgen war es richtig, ihm die 3000 € Schmerzensgeld zuzusprechen. Die Akte ist damit geschlossen, er kann sich nicht weiterhin als unbeachtetes Opfer der Justiz darstellen. Er ist nun ein, auch so klassifiertes Opfer, einer Folterandrohung, Die Zusprechung der 3000 € ist ein, so will es auch die entsprechende Rechtsnorm verstanden wissen, Zugeständnis an den Geschädigten aufgrund eines fehlerhaften Verhaltens des Staates oder eines seiner Organe. Was bürokratisch klingt, läßt sich in klaren Worten sagen: Die 3000 € sind ihm zuerkannt worden, als Zeichen dafür, dass der Staat seine Menschenwürde verletzt hat. Die Menschenwürde des Magnus Gäfgen ist also 3000 € wert. Nicht viel für jemanden, der sich vermutlich in seiner Haftanstalt weder in den Duschraum, noch in den Sportraum oder den Essenssaal trauen kann...
Außerdem darf man die nicht vergessen, dass die 3000 € gegen die knapp 70000 € Prozesskosten gerechnet werden. Insofern halte ich das Ergebnis für vertretbar.