Rechtsstaat "siegt", Rechtsempfinden verliert
Täterschutz für einen Kindsmörder

FREIE WÄHLER - Fraktion im Römer
Kommentare/Meinungen 16/2011
Im Namen des Rechtsstaates, doch gewiss nicht des Volkes ist am Donnerstag in Frankfurt dem verurteilten Kindsmörder Magnus Gäfgen eine Entschädigung von 3.000 Euro für eine „schwerwiegende Verletzung seiner Menschenwürde“ zugesprochen worden. Dieses Urteil, das nach geltendem Recht und Gesetz zustande kam, widerspricht gleichwohl dem natürlichen Rechtsempfinden der weit überwiegenden Mehrheit der Menschen in unserer Stadt und unserem Staat.
Im konkreten Fall wird zutiefst das Rechtsempfinden auch derjenigen Menschen verletzt, die um den Unterschied von Recht und Gerechtigkeit wohl wissen und die Konsequenzen daraus um des Rechtsstaates willen hinnehmen. Auch bei diesen Menschen sträubt sich alles dagegen, dass ein absolut skrupelloser Kindsmörder, Entführer und Erpresser nicht nur Polizeibeamte, die im Dienst alles und etwas mehr taten, um das Leben eines elfjährigen Jungen zu retten, vor Gericht zerren konnte und nun sogar noch „Schmerzensgeld“ bekommt. Dessen geringe Höhe ist dabei unerheblich, von Belang ist einzig, dass Gäfgen diese 3.000 Euro nach geltendem Recht und dem Spruch der 4. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt zustehen sollen.
Natürlich ist nun die Empörung unter der Bevölkerung groß, sie ist ja nur allzu verständlich und berechtigt, wenngleich nicht rechtlich umsetzbar. Klar ist jedoch bereits einen Tag nach dem Urteil: Ansehen und Akzeptanz des Rechtsstaates werden mit diesem Urteil weit mehr Schaden erleiden als Schaden verhindern. Das ist in krisenhaften Zeiten wie den unseren eine überaus gefährliche Entwicklung. Denn auch und gerade der Rechtsstaat ist keineswegs nur auf die Geltung von Paragraphen in dicken Gesetzeswerken angewiesen, sondern mindestens ebenso sehr auf die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger.
In einer Frankfurter Zeitung wurde ein Bericht über das Gerichtsverfahren übertitelt mit: „Das Grundgesetz gilt auch für Mörder“. Diese Überschrift ist sachlich nicht falsch, deutet aber – sicherlich ungewollt – auf ein grundsätzliches Problem hin, dessen Behandlung und Lösung empörende Urteile wie das zugunsten des Mörders Gäfgen vermeiden könnten.
Artikel 146 des im Mai 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes lautet: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der furchtbaren Bilanz der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft war den wenigen Müttern und vielen Vätern des Grundgesetzes klar: Es wird die Zeit kommen, in der das deutsche Volk - und gemeint war sicherlich das ungeteilte deutsche Volk – sich eine neue Verfassung im Lichte neuer Erfahrungen und Erkenntnisse gibt.
Diese Zeit ist längst gekommen, eine neue Verfassung aber nicht in Sicht und schon gar nicht in Absicht der derzeit dominierenden Parteien im Bund. Die haben sich zwar nie geniert, das Grundgesetz zu ändern und zu ergänzen, wenn ihnen das nützlich und notwendig dünkte. Manchmal war es auch der massive Druck bestimmter Realitäten, der zu Reparaturen zwang – erinnert sei nur ans Asylrecht in Artikel 16, das mit hässlichen Notoperationen in den neunziger Jahren eingeschränkt werden musste. Denn im Jahr 1949 war eine Situation, in der Millionen Menschen aus armen oder unterdrückten Staaten sich Deutschland als Ziel ihrer Träume von einem besseren Leben auswählen würden, schlicht unvorstellbar.
Ebenso unvorstellbar war es 1949, dass dereinst Kindesmörder sich auf Verletzung ihrer Menschenwürde aufgrund eines Verzweiflungsverhörs der Polizei berufen und damit auch noch vor Gericht gehen könnten. Wenn auf der Wand des Landgerichts in Frankfurt der erste Satz von Artikel 1 steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, dann ist diese plakative Heraushebung grundsätzlich richtig. Der folgende Artikel 2 sagt in Absatz 2 jedoch nicht weniger grundsätzlich: „Jeder hat das Recht auf Leben und Unverletzlichkeit.“ Magnus Gäfgen hat die Würde und das Leben eines Kindes nicht nur angetastet, er hat Würde wie Leben aus niedersten Motiven zerstört.
Es wäre mehr als überlegenswert, ob ein Mensch, der mutwillig, grausam und zweifelsfrei diesen Artikel 2 vollständig missachtet hat, die „Würde“ des Artikels 1 für sich in solch anspruchsvoller Weise wie Gäfgen in Anspruch nehmen darf. Und ist es nicht ein geradezu unerträglicher Widerspruch, dass der lebende Mörder eine „Würde“ einklagen kann, die seinem Opfer verwehrt ist, weil es tot ist? Der freiheitliche Rechtsstaat, und gerade er, hat allen Grund zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen. In der noch ausstehenden Verfassung könnten sich die Antworten darauf ablesen lassen.
Das Frankfurter Urteil zugunsten des Kindsmörders ist auch der Tatsache geschuldet, dass die Lebenswirklichkeit 2011 eine andere ist als 1949. Es gibt eine ganze Reihe von Artikeln im Grundgesetz, die im Laufe der Jahre deshalb ergänzt oder verändert wurden. Der Fall Gäfgen zeigt, wie notwendig das gerade beim dem sehr interpretierbaren Begriff „Würde“ ist, damit „Würde“ nicht verlangen oder gar einklagen kann, wer ein wehrloses Kind ermordet hat, um seine Geldgier zu befriedigen. Wer hindert die Politik, zwischen der Würde des Täters und der des Opfers zu differenzieren, also das Grundgesetz zu ergänzen?
Wer das als Angriff auf den Rechtsstaat bezeichnet, muss wissen: Das Grundgesetz ist nicht von Gott gesandt, sondern von Menschen formuliert und muss von Menschen begriffen und befolgt werden. Das ist aber nur so lange möglich, so lange die Menschen in Deutschland verstehen, wie das Gesetz praktiziert wird und welche Folgen es hat. Wenn sie das – wie im vorliegenden Fall – nicht mehr verstehen, sondern sogar empörend finden, dann geht das Vertrauen in den Rechtstaat und das Grundgesetz verloren.
All jene, die nun einmal mehr den Rechtsstaat gegen das „gesunde Volksempfinden“ verteidigen glauben zu müssen, sollten sich bewusst sein, dass das Recht wie das Geld ohne Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nur wertloses Papier ist.
Wolfgang Hübner, 06. August 2011