OFFENER BRIEF aus wichtigem Anlass
An den Bundestagsabgeordneten Christoph Schnurr
OFFENER BRIEF aus wichtigem Anlass
Frankfurt am Main, 8. September 2011
Lieber Christoph Schnurr,
wie geht es Ihnen als FDP-Bundestagsabgeordneter in diesen dramatischen Tagen? Sie erinnern sich vielleicht an unsere gemeinsame Zeit als Stadtverordnete im Frankfurter Römer – Sie in der Fraktion Ihrer Partei, ich als Fraktionsvorsitzender der FREIEN WÄHLER. Wahrscheinlich waren Sie im Herbst 2009 ebenso überrascht wie ich und viele andere, nach dem hervorragenden Wahlergebnis der FDP bei den Bundestagswahlen überraschend einen Sitz im Berliner Reichstag erobert zu haben.
Seitdem haben sich unsere Wege getrennt: Ich sitze immer noch für die FREIEN WÄHLER in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung, Sie gestalten in Berlin die Politik für unsere gemeinsames Vaterland mit. Ende September werden Sie an einer für Deutschlands Zukunft und Demokratie sehr wichtigen, ja schicksalhaften Entscheidung teilhaben, nämlich der Entscheidung darüber, ob die gewählten Abgeordneten unseres Landes einem neuen Ermächtigungsgesetz namens ESM-Vertrag zustimmen - oder nicht.
Ich glaube Sie von unseren gemeinsamen Stunden in vielen Römer-Sitzungen gut genug zu kennen, um zu wissen, wie wenig Ihnen dieses Wort „Ermächtigungsgesetz“ gefallen wird. Sie kennen mich wiederum gut genug, um zu wissen, dass ich ein Mann der klaren Worte bin. Deshalb kann ich den Vertrag zum „Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)“ auch nicht anders als eben mit diesem Begriff charakterisieren und bewerten. Ich habe sowohl den mir vorliegenden Vertragsentwurf wie auch etliche Analysen desselben aufmerksam studiert und komme zu dem Ergebnis: Das kann und darf ein vom Volk gewählter Abgeordneter des Deutschen Bundestages unter keinen Umständen und unter keinem Druck verabschieden!
Wer es trotzdem tun will oder gar tut, lädt eine schwere Schuld gegenüber unserem Land und unserer Demokratie auf sich. Deshalb bitte ich, ja beschwöre ich Sie: Machen Sie nicht mit, verweigern Sie ohne Wenn und Aber Ihre Stimme der Verabschiedung des ESM-Vertrags!
Ein profiliertes Mitglied der FREIEN WÄHLER in Frankfurt, wie ich ein älterer Mann und ganz gewiss kein Hitzkopf, hat Ihnen kürzlich im gleichen Sinne geschrieben. Ihre Antwort auf diesen Brief liegt mir vor. Ehrlich gesagt: Diese Antwort hat mich sehr enttäuscht. Denn ich kann dieser nicht entnehmen, ob Sie dem ESM-Vertrag zustimmen oder diesen ablehnen werden. Dabei habe ich Sie als einen noch sehr jungen und sehr redegewandten Politiker in Erinnerung, der durchaus klare Kante zeigen konnte in den Römer-Debatten.
Die beiden letzten Sätze in Ihrer Antwort auf den Brief meines Mitstreiters von den FREIEN Wählern lauten: „Daher setzen wir uns auf europäischer Ebene für eine erhebliche Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ein. Wir werden auch weiterhin dafür kämpfen, dass die Steuerzahler trotz der Verschuldungskrise so wenig wie möglich belastet werden.“ Schöne Worte, lieber Christoph Schnurr – doch was folgt aus diesen für Ihr künftiges Abstimmungsverhalten? Bislang jedenfalls gehört Ihr Name nicht zu den leider sehr wenigen Ihrer Fraktion, die am 29. September mit „Nein“ votieren wollen. Oder habe ich da etwas nicht richtig wahrgenommen?
Sie sind erst 27 Jahre alt, ich mehr als doppelt so alt. Deshalb bin ich ja keineswegs doppelt so klug wie Sie. Aber infolge der fragwürdigen Gnade der früheren Geburt halt doch etwas lebenserfahrener und vielleicht auch geschichtsbewusster. Mein Vater musste mir in meiner Kindheit immer von seinen Erlebnissen in jenem unseligen Krieg erzählen, in dem er über fünf Jahre seines Lebens dazu verurteilt war, seine Haut für eine Sache, die nicht die seine war, ziemlich unheroisch zu retten. Als er irgendwo an der russischen Front Anfang 1943 von der militärischen Katastrophe der Wehrmacht in Stalingrad erfuhr, wusste er, dass der Krieg für Deutschland und seinen menschenverachtenden Führer verloren war. Und er vertraute mir damals an, das hätten alle Kameraden, deren Hirne gegen die Nazi-Pest immun waren, nicht anders gesehen.
Warum ich Ihnen das schreibe? Weil auch wir Heutigen jetzt in einer Situation sind, in der das, was angeblich und offenbar unter allen Umständen und Opfern „gerettet“ werden soll, verloren ist. Der Euro in seiner jetzigen Konstruktion und Verbreitung wird durch den ESM-Vertrag nicht mehr „gerettet“ werden. Aber die finanziellen und politischen Kosten für diesen zum Scheitern verurteilten Rettungsversuch werden gewaltig sein, sie könnten sogar katastrophal werden. Gerade Ihre, die junge Generation, müsste einen nicht zu verantwortenden, gar nicht zu ertragenden Preis für die absehbaren Folgen dieses Vertragsmonsters zahlen. Und ganz nebenbei, aber keineswegs nebensächlich würden Sie bei einer Zustimmung zum ESM-Vertrag an Ihrer eigenen demokratischen Kastration Anteil haben. Wie wollen Sie das verantworten, wem gegenüber könnten Sie das verantworten?
Gewiss, ich habe durchaus Verständnis für Ihre schwierige Lage: Widersetzen sich genug Abgeordnete der Regierungsfraktionen CDU und FDP dem Verlangen der Regierung, dem ESM-Vertrag Grünes Licht zu geben, dann ist diese – allerdings ohnehin marode – Bundesregierung am Ende. Denn nur mit den Stimmen der Eurobond-Fans von SPD und Grünen diese Mehrheit zu bekommen, wäre für die Kanzlerin und die Koalition ein „Sieg“, der Selbstmord wäre.
Aber es gibt nun einmal Situationen, die politisch und privat einschneidende Entscheidungen erfordern. Wenn Sie sich dafür entscheiden, gegen den ESM-Vertrag zu stimmen, kann das den vorzeitigen Verlust Ihres Bundestagsmandats zur Folge haben. Doch was schwerer wiegt: Dieser Verlust, der für einen 27-jährigen Mann mit guter Ausbildung wie Sie zu bewältigen sein sollte, wird mehr als aufgewogen durch die Bewahrung oder Rettung Ihrer Glaubwürdigkeit und Ihrer politischen Zukunft.
Denn eines muss ich Ihnen nun schon sagen: Jeder Bundestagsabgeordnete, gleich welcher Partei, der am 29. September 2011 diesem Vertrag zustimmt, ist nicht mehr wählbar, aber haftet politisch und moralisch für dessen zu befürchtenden negativen Folgen für Volk und Staat. In der Beziehung wird es keine Toleranz geben, auch von mir nicht, lieber Christoph Schnurr.
Sie haben noch so viel Lebenszeit vor sich, deshalb: Bewahren Sie sich vor einem Makel, der nie wieder verschwinden wird. Und bewahren Sie unser gemeinsames Land und unser derzeit noch recht hasenfüßiges Volk vor einem Vertrag, der an Ungeheuerlichkeiten nicht arm ist. Oder wollen Sie nach Ansicht dieses aufklärerischen Videos anderer Meinung sein?
Nach dem gestrigen, leider allzu erwarteten Urteil des von den Parteien besetzten Bundesverfassungsgerichts hängt nun alles von der Entscheidung der gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages ab - auch und gerade von Ihnen. Sie sind der einzige dort in Berlin, den ich über eine längere Zeit als Parlamentarier beobachten konnte und durchaus zu schätzen gelernt habe, trotz aller Unterschiede der politischen Positionen. Ob ich meinen positiven Eindruck von Ihnen, lieber Christoph Schnurr, beibehalten kann oder revidieren muss, entscheiden Sie nun selbst. Ich hoffe zutiefst, Sie entscheiden sich richtig am 29. September 2011!
Vom Stadtverordneten zum Bundestagsabgeordneten
mit herzlichen Grüßen aus Frankfurt
Ihr Wolfgang Hübner