Der alte Mann und der blockierte Fahrstuhl

Die „kleinen“ Probleme sind manchmal sehr groß

Der alte Mann und der blockierte Fahrstuhl

Hübners Frankfurter Woche – Folge 41

Ein defekter Aufzug ist in der Regel kein großes Problem, wen der Defekt bald behoben wird und die Bewohner des Hauses in den oberen Stockwerken noch gut mobil sind. Sind sie das nicht und ist der Fahrstuhl einige Tage außer Betrieb, ist das hingegen schon ein Ärgernis und stellt für alte oder behinderte Menschen ein ernstes Hindernis dar, am normalen Leben teilzunehmen. Doch wenn der Fahrstuhl viele Monate nicht mehr funktioniert, dann kann diese Situation für einen alten Mann, der beim Gehen auf einen Rollator angewiesen ist, zum Gefängnis werden. Genau das widerfährt einem 90-jährigen Frankfurter in einem Haus in Sachsenhausen wohl immer noch.  

Ich las von diesem betrüblichen Fall vor einigen Tagen in einer Zeitung, bei der der betroffene alte Herr vor einem Vierteljahrhundert Redakteur war. Das ist auch wohl der Grund, warum seine Leidensgeschichte überhaupt publik geworden ist. Werner Kohler, so heißt der Mann, ist vermutlich das Opfer eines Immobilienunternehmens, das Häuser erwirbt, um sie teuer als Eigentumswohnungen profitabel zu vermarkten. Herr Kohler lebt seit 1982 in dem Haus und zahlt eine vergleichsweise niedrige Miete. Das ist für den Investor natürlich ein Hindernis, auch diese Wohnung zu versilbern. Da ist ein auf Dauer defekter Aufzug kein schlechtes Mittel, den lästigen Mieter zum Auszug zu nötigen.

Wir leben in Zeiten, die von den großen Problemen dominiert werden: Corona, Ukraine, Inflation, Energiepreise. All das beschäftigt uns, macht uns Sorgen, treibt uns auch in Ängste. Das ist nur zu verständlich. Und doch sollte das nicht den Blick auf die sogenannten „kleinen“ Probleme versperren, die für die jeweils betroffenen Menschen wie in diesem Fall der 90-jährige Herr Kohler, ganz große, sehr leidvolle Probleme sind. Diese „kleinen“ Probleme gibt es in einer großen Stadt wie Frankfurt zahlreich. Wir erfahren davon aber nur, wenn sie ausnahmsweise öffentlich gemacht werden oder wir selbst damit in Berührung kommen.

Herr Kohler kann nur mit viel fremder Hilfe sein Gefängnis verlassen und auf dem Südfriedhof das Grab seiner Frau besuchen. Und das Immobilienunternehmen ist um keine Ausrede verlegen, warum der Aufzug nicht endlich repariert wird. Das sind nur für diejenigen ein „kleines“ Problem, die sich allabendlich von der „Tagesschau“ im Fernsehen mit den großen Weltproblemen konfrontiert sehen und dabei nicht bemerken, wie nah die tatsächlichen Nöte von Menschen gleich nebenan sind oder sein könnten. Diese Nöte wahr zu nehmen und ihnen vielleicht sogar abzuhelfen, macht die Welt immerhin ein wenig besser. Weil die „kleinen“ Probleme real oft sehr groß sind.

 

Wolfgang Hübner

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