Unsere Demokratie stirbt ganz demokratisch
Bundestag soll sich bei „Euro-Rettung“ selbst entmachten

FREIE WÄHLER - Fraktion im Römer
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Wie eine Demokratie sich ganz demokratisch und, was im Zeitalter der Medien noch wichtiger ist, ganz unauffällig selbst entsorgt, nämlich nicht durch einen Militärputsch oder ähnlich spektakulär-hässliche Maßnahmen, führt derzeit der schwarz-rot-grün-gelbe Parteienblock im Bundestag vor – und niemand sage, darauf nicht aufmerksam gemacht worden zu sein.
Was heißt das konkret? Die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP haben mit ausdrücklicher Unterstützung der Fraktionsführer von SPD und Grünen vereinbart, dass künftige Euro-Rettungsbeschlüsse, die „besonderer Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit“ bedürfen, von einem aus nur neun Mitgliedern des 41 Mitglieder umfassenden Haushaltsauschusses entschieden werden sollen.
Da bei der Euro-Rettung wegen der unerbittlichen Reaktionen der „Märkte“ nach bisheriger Erfahrung fast immer „Eilbedürftigkeit“ und „Vertraulichkeit“ als notwendig bezeichnet und auch entsprechend gehandelt wurde, soll der Deutsche Bundestag, derzeit aus 620 Mitgliedern bestehend, seine haushalts- und finanzpolitisch wichtigsten Befugnisse in der Euro-Krise aufgeben zugunsten eines Gremiums, das geheim tagt und geheim entscheidet! Jeder Bundestagsabgeordnete, der dieser Selbstentmachtung zustimmt, leistet aktive Beihilfe zur Abschaffung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland und verletzt unheilbar Geist und Sinn des Grundgesetzes, vom Totalschaden der vielbeschworenen politischen Kultur ganz zu schweigen.
Es ehrt den Bundestagspräsidenten Lammert (CDU), dass er mit der vorgesehenen Selbstentmachtung des Parlaments in der vorgeplanten Form nicht einverstanden ist. Glaubwürdig wird das allerdings nur, wenn Lammert sofort zurücktritt, sollte es bei der Vereinbarung von CDU, FDP, SPD und Grünen bleiben. Dass genau das droht, dafür sprechen schon die lobenden Stellungnahmen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Steinmeier und des Grünen-Fraktionsvorsitzenden Trittin zu dem Entwurf der Koalition von CDU/CSU und FDP. Offenbar gibt es in Sachen Euro-Rettung in Deutschland keine Parteien mehr, sondern nur noch einen Rettungs-Block, den die gemeinsame Existenzangst vor dem Scheitern eines politischen Projekts eint, das auch zum Scheitern der gesamten politischen Klasse in Deutschland führen kann.
Jeder, der die Regeln und Grenzen parlamentarischer Arbeit einmal praktisch kennen gelernt hat – der Verfasser dieses Kommentars gehört als Stadtverordneter in Frankfurt seit einem vollen Jahrzehnt zu diesen Praktikern – wird sich nicht der geringsten Illusion darüber hingeben, was sich derzeit im Bundestag abspielt und welch verhängnisvolle Folgewirkung das für die deutsche Demokratie hat. Und wer dazu noch über einige Kenntnisse der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verfügt, wird mit Schaudern feststellen müssen: Zum dritten Male nach der parteiübergreifenden Bewilligung der Kriegskredite am 4. August 1914 und dem verhängnisvollen Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 soll am 29. September 2011 wiederum ganz legal und nach demokratischen Regeln der Weg für die faktische Beseitigung der Demokratie beschritten werden.
Wenn die wichtigsten Entscheidungen in der großen Krise, die erst ihren Höhepunkten entgegen geht, von einem Parlamentsgremium getroffen werden, das noch nicht einmal zwei Prozent der Bundestagsabgeordneten umfasst und ganz sicher nicht aus potentiell aufsässigen Parteisoldaten zusammen gesetzt sein wird, dann kann von einer demokratischen Willensbildung, die diesen Namen verdient, keine Rede mehr sein.
Wenn in dieser Situation der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, ein gewisser Herr Barthle, sagt: „Wir haben eine umfassende Mitwirkung des Bundestages bei Maßnahmen des Rettungsschirmes vorgesehen, die weit über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hinausgehen“, dann ist das entweder eine unverschämte Lüge oder eine legitime Interpretation des jüngsten Karlsruher Urteils, die deutlich macht, wie sehr dieses Gericht schon Teil und Erfüllungsgehilfe des Parteienstaates geworden ist.
Niemand, dem an der Fortexistenz der deutschen Demokratie liegt, kann hinnehmen, was gerade geschieht. Denn wer jetzt nicht Wort und Tat dagegen erhebt, wird das spätestens dann bedauern, wenn im weiteren Verlauf der Krise noch ganz andere antidemokratische Beschlüsse und Maßnahmen folgen. Diese werden aber nur in der Konsequenz dessen liegen, was am 29. September 2011 im Bundestag finanziell und rechtlich verabschiedet werden soll. Jeder Abgeordnete von CDU, SPD, FDP und Grünen, der sich dem verweigert, gilt Anerkennung und Respekt. Jeder aber, der den Weg frei macht für die Selbstentmachtung des Bundestages und die Aufladung von finanziellen Verpflichtungen, die Deutschland ruinieren können, ist ein Verächter der Demokratie und des Grundgesetzes.
Wolfgang Hübner, 21. September 2011