„Soll ich heizen oder essen?“

Frankfurter Tafel leidet unter Überlastung

„Soll ich heizen oder essen?“
© Claus Folger

Angespannt ist das Gesicht von Rainer Häusler, des 1. Vorsitzenden der Frankfurter Tafel e.V. Im Gespräch kündigt er an, „eine nach der anderen Lebensmittelausgabestelle für Neukunden (‚aus den Frankfurter Reihen‘) dichtmachen zu müssen“. Der Grund: Die Lebensmittelspenden für die Frankfurter Tafel seien wegen der Spendenbereitschaft für die Ukraine um ca. 80 % zurückgegangen. So gingen zu Kriegsbeginn etwa 30 Lastzüge mit Lebensmitteln in die Ukraine. Lebensmittelreserven, die sonst für die Frankfurter Tafelkunden verfügbar gewesen wären, mussten abgegeben werden. Das eigene Vorsorgelager wurde angegriffen. Es stehe auch deshalb heute zu einem großen Teil leer.


Obwohl die Frankfurter Tafel nach dem Rückzug der langjährigen Gallionsfigur Edith Kleber heute breiter aufgestellt ist, hat sich die psychische und körperliche Belastung ihrer Helfer und Mitarbeiter zuletzt deutlich erhöht. Die Tafel fing 1995 winzig an. Die damals 75-jährige Hella Schmieder schmierte aus ihrem Esszimmer heraus Brötchen und verteilte Süßigkeiten. Im Laufe der Jahre stieß sie zunehmend in Bereiche vor, in denen es vorher keine Angebote gab, der Staat also eine Leerstelle hinterlassen hatte. Heute hat die politisch neutrale Tafel, die nicht als Teil des staatlichen Sozialsystems angesehen werden möchte, 14 Lebensmittelausgabestellen in Frankfurt. Zudem beliefert sie 56 soziale Einrichtungen mit Essen.

„Wir haben Menschen an den Tafeln, die uns die Frage stellen: Soll ich heizen oder essen?“, sagte jüngst Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland e. V., gegenüber einem TV-Sender. Trotz der vor dem Hintergrund der extrem steigenden Energiekosten grassierenden Not hätten mittlerweile 82% der Tafeln einen Aufnahmestopp verhängen müssen. Nicht zuletzt deshalb, weil auch viele ukrainische Flüchtlinge an die Tafeln drängen, die ohne Abklärung ihrer Vermögensverhältnisse Zugang zu den Lebensmittelausgabestellen der Tafel erhalten.

Doch wo sollen die dringend benötigten Lebensmittel herkommen? Zum einen setzen Supermarktketten zunehmend auf just-in-time-Lieferung und reduzieren durch moderne Prognosesysteme und automatisierte Bestellverfahren Verschwendung, so dass für die Tafeln weniger übrigbleibt. Die REWE Group auf Anfrage: „Mittlerweile verkaufen PENNY und REWE im Jahresdurchschnitt über 98 Prozent ihrer Lebensmittel.“

Zum anderen graben diverse Zusammenschlüsse von Lebensmittelrettern wie foodsharing e. V. mit über 300.000 Nutzern und „foodsavern“ in den deutschsprachigen Ländern sowie die millionenstarke Community Too Good To Go den Tafeln das Wasser ab. Die gleichnamige App vernetzt Restaurants, Bäckereien, Hotels und Supermärkte mit Verbrauchern, damit letztere überschüssige Lebensmittel zu einem vergünstigten Preis erwerben können. Rainer Häusler: „Bei den Lebensmittelrettern steht nicht die Bedürftigkeit der Menschen im Vordergrund. Es geht nur um ihren Eigenbedarf. Sie essen alles selbst.“

Dies alles vor dem Hintergrund, daß nach dem Paritätischem Armutsbericht 2022 letztes Jahr in Deutschland 13,8 Millionen Menschen einkommensarm waren: „Noch nie wurde eine höhere Armutsquote für das Bundesgebiet gemessen. Damit fügt sich auch das Jahr 2021 in einen besorgniserregenden Aufwärtstrend der Armutsquoten, der bereits 2006 eingesetzt hat.“ Also kurz nach dem Inkrafttreten von Hartz 4. Momentan arbeitet etwa jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte in Deutschland im Niedriglohnsektor, so viele wie in kaum einem anderen europäischen Land. So machen Geringverdiener neben Alleinerziehenden und Rentnern auch den größten Teil der regulären Tafelkundschaft aus.

Obwohl die Tafeln in Deutschland regelmäßig betonen, daß sie nicht Teil des staatlichen Sozialsystems sind, um staatlicher Vereinnahmung vorzubeugen und sich nicht für politische Zwecke instrumentalisieren zu lassen, werden die hessischen Tafeln aufgrund der Folgen der Pandemie und der Ukrainekrise erneut vom Land Hessen bezuschusst. Nach neuester Meldung für dieses Jahr mit weiteren 2,2 Millionen Euro Soforthilfe. In Anbetracht dieser zu beobachtenden Entwicklungen könnte es tatsächlich nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch die Tafeln - wie zum Beispiel die Caritas - dauerhaft vom Staat mitfinanziert werden müssten, um überhaupt deren wichtige Arbeit fortführen zu können.

Claus Folger

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