Die Republik der Parteisoldaten
Wer sich nicht fügt, wird ausgegrenzt

FREIE WÄHLER - Fraktion im Römer
Kommentare/Meinungen
Immerhin: Es hat 13 Bundestagsabgeordnete aus den Reihen der Fraktionen von CDU/CSU und FDP gegeben, die sich am Donnerstag dem Weg in den finanzpolitischen Abgrund Deutschlands bei der „Euro-Rettung“ verweigert haben. Das waren allerdings bei weitem nicht genug Aufrechte, um Merkel, Schäuble und ihren Leichtmatrosen Rössler zu stoppen. Viel größer war die Zahl der stets gehorsamen Parteisoldaten, die so stimmten, wie es ihre Führungen befahlen und wie es der Fortführung ihres einkömmlichen Mandats sowie den Aussichten, dieses auch nach der nächsten Wahl wieder zu bekommen, entsprach.
Wenn ein etablierter, mit allen Tricks und Fallstricken des parlamentarischen Geschäfts bestens vertrauter Mann wie der der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach, bei seinem ersten öffentlichen Aufstand gegen die Befehlsgewalt seiner Parteispitze von unerträglichem Druck spricht, der auf ihn ausgeübt wurde, um ihn zur Zustimmung der neuerliche „Euro-Rettung“ zu zwingen, dann wirft das ein grelles Schlaglicht auf Praktiken, die von den Parteien in allen Parlamenten – von den Kommunen bis zum Bundestag - gegen Geist und Buchstaben der Verfassung ausgeübt werden, und zwar äußerst "erfolgreich‘ und wirksam.
Artikel 38 des Grundgesetzes lautet: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Und der § 35 der Hessischen Gemeindeordnung lautet: „Die Gemeindevertreter üben ihre Tätigkeit nach ihrer freien, nur durch die Rücksicht auf das Gemeindewohl bestimmten Überzeugung aus und sind an Aufträge und Wünsche der Wähler nicht gebunden.“
Von Fraktionszwang ist nirgends die Rede, tatsächlich aber ist seine Praktizierung in der überwältigenden Zahl der parlamentarischen Entscheidungsfälle die Regel. Ab und zu allerdings werden die Abgeordneten publikumswirksam bei sogenannten „Gewissensentscheidungen“ von der kurzen Leine gelassen. Dabei darf es sich aber keinesfalls um Themen und Entscheidungen handeln, die der politischen Macht der Parteien und insbesondere ihrer Macht über das Geld der Steuerzahler in irgendeiner Weise gefährlich werden könnten.
Wie intolerant, wie gereizt der gesamte Parteienblock reagiert, wenn er seine Oberherrschaft über die Abgeordneten in Frage gestellt sieht, zeigen die aufschlussreichen Reaktionen auf die Entscheidung von Bundestagspräsident Lammert (CDU), auch den beiden „Euro-Rebellen“ Willsch (CDU) und Schäffler (FDP) in der Debatte am 29. Oktober 2011 je fünf Minuten Redezeit einzuräumen. Was auch immer Lammerts Motive dabei waren: Ihm gebührt ausdrücklicher Dank für dieses Handeln. Und sowohl Willsch wie Schäffler haben das in eindrucksvoller Weise genutzt.
Das konnten die beiden Bundestagsabgeordneten umso besser tun, weil sie als Ökonomen sehr genau über die Bedeutung ihrer Entscheidung wussten. Ein TV-Magazin hat nun enthüllt, dass viele ihrer Kollegen im Bundestag eine folgenreiche Entscheidung für das gesamte deutsche Volk gefällt haben ohne den dafür unbedingt notwendigen Sachverstand. Den hätten sie sich übrigens durchaus erarbeiten können – an Material mangelt es wahrlich nicht. Doch das haben die meisten wohl schon deshalb gescheut, weil sie unter keinen Umständen bereit waren, in Konflikt mit denen zu kommen, denen sie ihr Mandat tatsächlich verdanken, nämlich den Mächtigen in den Parteiführungen und Parteiapparaten.
Was aber noch viel schlimmer erscheint, das ist die von dem TV-Magazin entlarvte Unbedenklichkeit und Ignoranz vieler dieser sogenannten „Volksvertreter“, die in Wahrheit nur besonders gehorsame Parteisoldaten sind. Als inzwischen langjähriger Angehöriger der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung ist mir all das jedoch nur zu vertraut – dieser geradezu blinde Gehorsam gegenüber den Vorgaben der eigenen Partei und der Fraktionsführung. Dabei verkenne ich keineswegs, dass eine politikfähige Fraktion stets um Geschlossenheit bemüht ein muss, damit sie die eigene Regierung unterstützen oder als Opposition wirkungsvoll sein kann. Das verlangt von der Führung der Fraktion, insbesondere ihrem Vorsitzenden, ein enormes Maß an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft ab. Weniger darf allerdings nicht verlangt werden.
Bequemer, einfacher ist es gewiss, die notwendige Überzeugungsarbeit durch Disziplinierung und Pressionen zu ersetzen und all jene, die sich dem widersetzen - wie aktuell die Bundestagsabgeordneten Bosbach, Willsch und Schäffler -, als „Abweichler“ zu diffamieren. Dabei ist denen, die diesen Ausdruck (und noch ganz andere!) für Politiker mit eigener Meinung und Verfassungstreue verwenden, offenbar überhaupt nicht bewusst, dass einst in jenem zum Glück verschwundenen Unrechtsstaat DDR Männer und Frauen, die sich ihre Meinungsfreiheit nicht verbieten ließen, als „Dissidenden“ ausgegrenzt und in vielen Fällen auch kriminalisiert wurden.
Soweit sind die Verhältnisse im seit 21 Jahren wiedervereinten demokratischen Deutschland noch nicht. Aber der Umgang der Parteien mit den „Abweichlern“ vom 29. September macht klar: Wir sind nicht mehr sehr weit entfernt von solchen Verhältnissen. Umso notwendiger ist entschlossener bürgerlicher Widerstand gegen all jene Kräfte, die im Grunde Verfassungs-feinde sind. Wir sollten uns nicht scheuen, sie als solche zu benennen und zu bekämpfen.
Wolfgang Hübner, 1. Oktober 2011