Die Inflation der Wendehälse
Flughafenausbau hat desaströse politische Folgen
FREIE WÄHLER
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Der 21. Oktober 2011 war vorerst der letzte schöne Tag im Leben der vorherrschenden Parteien und Politiker in Frankfurt und Hessen. An diesem Tag wurde die neue Landebahn auf dem mit Abstand größten deutschen Flughafen eröffnet, sogar die Bundeskanzlerin war da. Seitdem aber ist es zehntausenden von betroffenen Bürgern unter den neuen Flugrouten entschieden zu laut. Die Proteste reißen nicht ab, kürzlich haben sogar die friedlichen Winzer in Hochheim in einer Resolution beklagt, in ihren Weinbergen verlärmt zu werden. Und nichts spricht dafür, dass die Zahl der „Wutbürger“ bald wieder geringer wird, im Gegenteil.
Wichtigen Anteil an Stärke und Brisanz des Protestes gegen die Folgen des Frankfurter Flughafenausbaus hat die soziale Zusammensetzung der neu oder jetzt noch mehr von Fluglärm betroffenen Bürger: Es sind nämlich viele Menschen darunter, die in wohlhabenden, gutbürgerlichen Bereichen ihr Haus oder ihre Wohnung haben. Die allermeisten von ihnen hatten bislang überhaupt nichts gegen die Erweiterung des zentral gelegenen Flughafens, der so bequem für die Ferienreise nach Mallorca oder die Karibik zu erreichen ist. Dass allerdings auch die modernsten Maschinenvögel viel Krach beim Starten und Landen machen, war zwar allgemein bekannt, doch bis zum 21. Oktober 2011 der Krach im Leben der Anderen. Das ist nun anders – ganz anders.
Die derzeit vorherrschenden Parteien, also CDU, SPD, Grüne und FDP haben samt ihrem Personal einige Wochen gehofft, der Protest würde sich beruhigen, die betroffenen Menschen sich irgendwie an die neue Situation gewöhnen. Diese Hoffnung hat sich schon deshalb als Illusion erwiesen, weil die Zahl derer, die sich vom Fluglärm in ihrer Lebensqualität und beim Wert ihres immobilen Eigentums geschädigt sehen, viel zu groß ist, um mit der routinierten Mischung von Ignoranz und Besänftigung seitens der politisch Verantwortlichen zur Hinnahme des neuen Übels gebracht werden zu können. Ob im Frankfurter Römer, der Staatskanzlei in Wiesbaden oder den Parteizentralen – überall stellt sich die Frage: Wie reagieren? Was tun?
Es lohnt ein Blick darauf, wem eigentlich der riesengroße Flughafen in Frankfurt gehört. Er gehört jedenfalls nicht, diese Erkenntnis ist wichtig, irgendwelchen skrupellosen kapitalistischen Profitjägern oder milliardenschweren Investoren, die ihr überflüssiges Kleingeld in Betonpisten investieren. Nein, der Flughafen ist das, was mit Fug und Recht als „volkseigener“ Betrieb bezeichnet werden kann. Denn die Fraport AG hat zwei Hauptaktionäre: Das Land Hessen mit einem Anteil von 31,50 Prozent und die Stadtwerke Frankfurt mit einem Anteil von 20,12 Prozent. Land und Stadt haben folglich mit insgesamt 51,62 Prozent die Mehrheit.
Diese Mehrheit wird im Aufsichtsrat repräsentiert durch Landespolitiker wie Karlheinz Weimar (CDU) und Jörg-Uwe Hahn (FDP) sowie die Frankfurter Stadtpolitikerinnen Petra Roth (CDU) und Jutta Ebeling (Grüne). Auch die SPD, der Bund, die Großindustrie und die Lufthansa sind im Aufsichtsrat vertreten, dazu nicht weniger als sieben Gewerkschafts- und Betriebsratsfunktionäre. Auch wenn diese Personen und ihre Verbände unterschiedliche Interessen haben – sie alle sind aber an Wachstum und Erfolg des Flughafens gleichermaßen interessiert.
Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer sich dem Wachstum und damit dem Erfolg des Unternehmens entgegenstellt, macht sich sämtliche etablierten Parteien, die Stadt Frankfurt, das Land Hessen und den Bund sowie die Gewerkschaften und auch das Großkapital zum Gegner. Es ist also eine mächtige Allianz, die den erfolgten Ausbau zu verantworten hat und ohne Zweifel nicht so ohne weiteres vor dem Proteststurm kapitulieren wird, der noch an Stärke gewinnen könnte.
Aber auch die mächtige Allianz der Befürworter des Flughafenausbaus muss inzwischen erkennen, wie sehr die Empörung über die Folgen des Ausbaus unterschätzt wurde. Diese Empörung resultiert nicht, wie beim dem Konflikt um „Stuttgart 21“, aus der eher rational begründeten gegensätzlichen Meinung vieler Bürger zu einem Großprojekt, sondern aus der sinnlich-unmittelbaren Erfahrung von als unerträglich empfundenen Lärm sowie dem materiell berechenbaren Wertverlust von Immobilieneigentum. Genau das macht den Protest wesentlich explosiver als den in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg.
Die Parteien und Politiker, die diese Entwicklung zu verantworten haben, sind nun ratlos, ducken weg oder flüchten sich auf Nebenschauplätze wie der Beschwörung des Nachtflugverbot, das aber faktisch schon besteht und auch nach dem demnächst zu erwartenden Urteil vor dem Bundesverwaltungs-gericht in Leipzig nicht mehr aufgehoben oder relativiert werden kann, ohne einen Massenaufstand in der gesamten Rhein-Main-Region zu riskieren. Doch spätestens mit Beginn der wärmeren Jahreszeiten werden nicht mehr Nachtflüge das Thema sein, sondern die fast ununterbrochenen Lärmbelästigungen vom frühen Morgen bis zum späten Abend.
Und spätestens dann müssen sich die verantwortlichen Parteien und Politiker entscheiden: Flüchten oder Standhalten? Flüchten hieße in letzter Konsequenz nichts anders als die Stilllegung der Milliardeninvestition neue Landebahn. Noch gilt diese letzte Konsequenz als ganz unwahrscheinlich, ja unmöglich. Aber die Dynamik der bisherigen Entwicklung seit Eröffnung der Landebahn lässt vermuten, dass bei diesem Konflikt alles möglich ist. Schon das Nachtflugverbot war insgeheim weder von Fraport noch von den verantwortlichen Politikern vorgesehen. Wenn es nun doch realisiert werden muss, dann ist das aus rein ökonomischer Sicht eine sehr empfindliche Einbuße an Attraktivität und Profitabilität des Flughafens.
Inzwischen flüchten sich Politiker wie Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth sowie der CDU-Kandidat für ihre Nachfolge und amtierende hessische Innenminister Boris Rhein in jenes Nachtflugverbot, das beide doch eigentlich zu Fall bringen wollten, wenngleich sozusagen über Bande. Auch SPD und Grüne suchen die Rettung ihrer Glaubwürdigkeit in der Betonung, schon immer für ein Nachtflugverbot gewesen zu sein. Sie wollen damit der entscheidenden Frage entkommen, wie denn nun das real existierende Ausbaufolgendesaster so gelöst werden kann, dass der Protest beruhigt und sogar dereinst zum Verschwinden gebracht werden kann. Denn sowohl die SPD wie auch die längst nur noch verbal den Ausbaugegner simulierenden Grünen schrecken zutiefst davor zurück, ernsthaft die Schließung der neuen Landebahn zu fordern.
Was aber weder die CDU noch die so schmalbrüstig gewordene FDP, aber eben auch SPD und Grüne begreifen oder begreifen wollen, ist die Tatsache, dass ihr Verhalten seit Beginn der Protestwelle nichts anderes ist als die Ermunterung, genau diese Maximalforderung Schließung zu erheben. Denn unter dem Eindruck der Wut und der wachsenden Bereitschaft, diese Wut auch in Aktion zu verwandeln, haben die Parteien und ihr Personal eine politische Todsünde begangen: Sie haben nicht standgehalten!
Schon als sich abzeichnete, welch breiter Protest sich formiert und welch bürgerlichen Charakter dieser hat, hätten sich die Spitzen des Landes Hessen, der Stadt Frankfurt und auch die Spitzenvertreter der SPD, die bei der Landtagsentscheidung im Jahr 2000 dem Ausbau bekanntlich zugestimmt hat, aktiv und offensiv zu ihrer Entscheidung bekennen müssen. Und selbstverständlich hätte sich Frankfurts Bürgermeisterin Ebeling (Grüne) aus dem Fraport-Aufsichtsrat zu verabschieden gehabt, wenn die Grünen auch nur halbwegs glaubwürdig ihrem Anspruch gerecht werden wollten, schon immer gegen den Ausbau gewesen zu sein. Aber Frau Ebeling denkt offenbar gar nicht daran, diesen Schritt zu tun. Fazit: Vertrauensverlust auf der ganzen Linie für die derzeit dominierenden Parteien in dieser Angelegenheit.
Es ist im politischen Leben jedoch nicht anders als im Privatleben: Wer nicht zu wichtigen, langwirkenden Entscheidungen steht, der verliert das Vertrauen und büßt Autorität ein. Mit hilflosen Beschwörungen von leiseren Maschinen, anderen Anflugtechniken und veränderten Flugrouten werden die Politiker den Protest noch nicht einmal besänftigen können. Im Gegenteil: Damit erwecken sie nur den Verdacht, dass seit Eröffnung der neuen Landebahn an hunderttausenden Menschen erprobt wurde, wo deren Schmerzgrenze liegt. Wenn nun sogar Minister öffentlich jammern, so laut hätten sie sich das aber nun nicht vorgestellt, dann ist das entweder grenzenlos zynisch, grenzenlos dumm und/oder grenzenlos inkompetent, auf jeden Fall verachtenswert.
Die neuen Flugrouten sind selbstverständlich keineswegs willkürlich ausgewählt worden, sondern nach eingehender Prüfung aller Alternativen. Das betrifft auch Flughöhe sowie alle weiteren Faktoren. Vielleicht kann hier und da noch einiges verändert werden, doch bedeutende Verminderungen der Lärmbeeinträchtigung können schon deshalb nicht erwartet werden, weil die Zahl der Landungen ja noch beträchtlich steigen soll. Und genau, das nämlich die Ausweitung der Start- und Landekapazität des Frankfurter Flughafens war sowohl ökonomisch wie politisch gewollt. Wer das gewollt hat, musste den Preis für diese Ausweitung wissen – und hat es auch gewusst. Darüber gibt es nicht den geringsten Zweifel.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, sondern geradezu zwingend, dass die verantwortlichen Parteien und Politiker mit ihren unglaubwürdigen Wendehalsmanövern jegliches Vertrauen in der betroffenen, aber durchaus auch in der von den Ausbaufolgen bislang wenig bis überhaupt nicht betroffenen Bevölkerung verlieren. Und es ist deshalb auch mehr als wahrscheinlich, dass die Forderungen nach Abmilderung der Ausbaufolgen, die jetzt noch dominieren, im Frühjahr 2012 zum massenhaften Schrei nach der Stilllegung der neuen Landebahn werden. Dann allerdings droht ein Konflikt, bei dem nicht nur gigantische Investitionen auf dem Spiel stehen, sondern die Zukunft des größten deutschen Flughafens und des größten Arbeitgebers im Rhein-Main-Ballungsgebiets überhaupt.
Es ist für die kommenden Auseinandersetzungen um den Flughafenausbau von größter Bedeutung zu wissen, wer die neue Landebahn tatsächlich in Gefahr bringt, wieder stillgelegt zu werden: Es sind nicht die aus sehr verständlichen Gründen protestierenden Menschen, die von Lärm und Eigentumsverlust betroffen sind. Ihre Zahl ist groß, aber letztlich wäre diese Zahl bei einem eventuellen Volksentscheid nicht groß genug, um diese einschneidende Maßnahme durchzusetzen. Es sind vielmehr Unglaubwürdig-keit, Feigheit, Verlogenheit und Opportunismus der derzeit in Hessen und Frankfurt dominierenden Parteien, die nicht zu dem stehen, was sie gewollt, demokratisch entschieden, betrieben und, im Fall der Grünen, trickreich augenzwinkernd toleriert haben.
Der weitere Ausbau des Frankfurter Flughafens im Ballungsgebiet Rhein-Main war, das haben die FREIEN WÄHLER in Frankfurt bereits seit Bekanntgabe der Pläne dokumentierbar festgestellt, eine fundamentale Fehlentscheidung. Im Programm für die Kommunalwahl des Jahres 2001 hieß es dazu unzweideutig: „Eine Erweiterung des Frankfurter Flughafens, gleich in welcher Variante – neue Landebahn im Norden oder Süden -, lehnen wir ab. Die geplante Erweiterung wird nach offiziellen Bekundungen nur bis zum Jahr 2015 ausreichen, aber die Belastung von Umwelt und Menschen langfristig unerträglich steigern. Dazu hat der Frankfurter Flughafen Untersuchungen zufolge seine optimale Betriebsgröße bereits überschritten.“
Im gleichen Wahlprogramm hatten die FREIEN WÄHLER eine Reihe von Möglichkeiten aufgeführt, um eine Kapazitätserweiterung des Luftverkehrs schonender und weitsichtiger zu ermöglichen. Doch den Parteien und Politikern, die heute vor dem Protest wegducken, waren solche Möglichkeiten noch nicht einmal eine Diskussion wert. Verwunderlich war das aber schon deshalb nicht, weil sie allesamt damals noch nicht mal mehr wissen wollten, was in der Begründung zum Planfeststellungsbeschluss für den Bau der ebenfalls erbittert umstrittenen Startbahn 18-West mit Datum vom 23. März 1971 stand: „Die Befürchtung, daß später eine weitere Start- oder Landebahn – etwa parallel zur Bahn 18-West – errichtet werden könnte, entbehren jeder Grundlage. Die Genehmigung einer solchen Maßnahme wird auf keinen Fall erteilt.“
Der damalige Hessische Minister für Wirtschaft und Technik, der diesen Planfeststellungsbeschluss unterzeichnet hat, hieß Heinz-Herbert Karry, gehörte der FDP an und wurde 1981, höchstwahrscheinlich von Linksextremisten, in seinem Haus in Frankfurt erschossen. Wie immer Karrys Haltung zur Startbahn 18-West beurteilt werden mag – dieser Politiker hat felsenfest zu einer Entscheidung gestanden, von deren Nutzen er überzeugt war.
Petra Roth, Boris Rhein und all die anderen sind wirklich nicht in Gefahr, ein so schreckliches Ende zu finden wie einst Karry. Trotzdem ziehen sie es offensichtlich vor, eher als opportunistische, unglaubwürdige Wendehälse verrufen zu werden als zu ihren Reden und Taten von gestern zu stehen. Dieses Personal riskiert nicht nur den Fortbestand einer Milliardeninvestition, sondern auch eine politische und gesellschaftliche Krise mit unabsehbaren Folgen.
Wolfgang Hübner, 1. Januar 2012