Ohne Würde, ohne Ehre
Wulffs Erklärung ist ein moralisches Desaster
So geht es zu in der „Rettungsschirm“-Republik Deutschland: Ein in höchste Bedrängnis geratener Parteipolitiker, der mit Ach und Krach ins Amt des Bundespräsidenten gehievt wurde, muss seine ins Zwielicht geratenen Handlungen und Verhaltensweisen erklären. Was macht er? Der Politiker bestellt zwei Journalisten, die allzu kritischer Nachfragen unverdächtig sind, von ARD und ZDF ein, um zu bester Sendezeit dem Volk seine Sicht der Dinge darzulegen. Selten wurde die gar nicht so geheime Kumpanei zwischen Politik- und Medienkaste so offenbar wie bei diesem spektakulären Ereignis.
Aber das ist ein anderes, wenngleich sehr lohnenswertes Thema. Wichtiger ist selbstverständlich, was der Präsident seinen journalistischen Stichwortgebern gesagt hat. Wulff, das war ihm anzusehen und seiner Stimme anzuhören, stand unter hohem Druck. Das muss zu seinen Gunsten bei der Analyse der Erklärungen im Fernsehen beachtet werden. Er konnte dort keine sorgfältig ausgearbeitete, mit allerlei Beratern wohlkalkulierte Rede verlesen, sondern musste frei sprechen. Das brachte dem Präsidenten den Vorteil, seinem Millionenpublikum menschlicher und authentischer zu begegnen. Es hatte allerdings den viel schwerer wiegenden Nachteil, dass die Deutschen einem Mann begegneten, der nicht um Würde und Ehre weiß.
Es mag ja sein, dass bei nicht wenigen, die den Präsidenten auf der Mattscheibe verfolgten, diese moralischen Defizite ebenso vorhanden sind. Das betrifft vor allem jene Leserbriefschreiber und Stimmen, die in den letzten Wochen im Hinblick auf Wulffs befremdliche Hauskreditvereinbarungen einwarfen, so seien wir doch alle: Jeden Vorteil mitnehmen, der sich nur irgendwie bietet, egal um welchen Preis und nach dem Motto: „Sind wir nicht alle ein bisschen korrupt?“
Aber noch immer gibt es in einem Volk von 80 Millionen auch noch eine beträchtliche Zahl von Menschen, denen Würde und Ehre, ob nun die eigene oder die der höchsten Repräsentanten des Staates Deutschland, nicht gleichgültig, sondern vielmehr sogar wichtig sind und bleiben.
Diese Mehr- oder auch Minderheit in Christian Wulffs „Bunter Republik“ musste gestern zur Kenntnis nehmen, dass ein langjähriger Politprofi jammerte, er sei sehr schnell, „ohne Karenzzeit“, vom Amt des niedersächsischen Ministerpräsidenten in sein heutiges Amt befördert worden. Hat es je einen Vorgänger in seiner Stellung gegeben, der nicht ein Amt oder eine wichtige Funktion verlassen musste (und in der Regel auch gerne verlassen hat), um Bundespräsident zu werden? Und reicht es nicht, dass Wulff nun bereits seit vielen Monaten seines Amtes waltet, um sich als ausreichend eingearbeitet anzusehen?
Jeder normale Arbeitnehmer muss bei einer Neueinstellung mindestens drei Probemonate hinter sich bringen. In diesen muss er seine Kompetenz für die Tätigkeit beweisen, aber er wird unter vernünftigen Bedingungen auch noch nicht maximal gefordert. Wulff hat jegliche „Probezeit“ längst hinter sich – von was spricht er also, was will er uns mit diesem Hinweis auf die fehlende „Karenzzeit“ eigentlich sagen? Und was soll die ebenso triviale wie höchst unangenehm anbiedernde Allerweltsweisheit: „Man ist Mensch und macht Fehler“? Selbst die zu übergroßer Autoritätsgläubigkeit neigenden Deutschen betrachten im Jahr 2012 einen Bundespräsidenten nicht als entrückten Ersatzmonarchen, sondern schlicht als Menschen mit besonders erfolgreicher politischer Karriere.
Aber damit nicht genug, beansprucht der bedrängte Präsident auch noch „Persönlichkeits- und Menschenrechte für den Bundespräsidenten“. Will ihm diese jemand verweigern oder wegnehmen? Und wer wollte das wagen? Wulff genießt diese Rechte selbstverständlich und sogar im Übermaß, wie die TV-Inszenierung am Mittwoch eindrucksvoll bewies. Denn wer bekommt schon sonst noch das Privileg eingeräumt, sich gegenüber Vorwürfen so öffentlichkeitswirksam äußern zu können?
Schon vor Wulffs Auftritt war bekannt, dass seine reichen Gönner und Förderer von der eher zwielichtigen Sorte sind. Mit Typen wie diesen mag ein ehrgeiziger Politiker aus kleinen Verhältnissen besser nach oben kommen. Aber es sind Gestalten, die Menschen mit einem Sinn für Würde und Ehre nicht allzu gerne als „Freunde“ bezeichnen würde.
Auch Wulff hat es in seinen Fernseh-Darlegungen vermieden, die sattsam bekannt und berüchtigten Namen seiner „Freunde“ zu nennen. Das wäre zu seinem Vorteil gewesen, hätte er nicht mit einer Dreistigkeit ohnegleichen von sich gegeben, er wolle nicht Bundespräsident in einem Land sein, in dem sich ein Präsident kein Geld bei einem Freund leihen dürfe!
So ist das also: Beim höchsten Repräsentanten des mächtigsten Staates in der EU spielt es keine Rolle, ob er sich trickreich Geld bei der Frau eines in die steuergünstige Schweiz verzogenen Immobilienspekulanten besorgt oder mit der Familie kostenlose Urlaube in den ausländischen Luxusvillen von windigen, am finanziellen Unglück vieler Menschen beteiligten Geschäftemachern wie einem Carsten Maschmeyer genießt? Wenn Wulff solche Typen als „Freunde“ betrachtet, dann hat er in Wahrheit nicht nur keine, sondern die Auswahl dieser „Freunde“ spricht zutiefst gegen die charakterliche Qualität dieses Präsidenten.
Ja gewiss: Auch der Bundespräsident darf sich für die Behausung des zweiten Ehe- und Familienglücks bei Freunden Geld leihen, obwohl er doch in seinem Amt besser ganz normal und sehr aussichtsreich zur Bank oder zur Sparkasse ginge. Aber bei solchen „Freunden“ leiht sich weder ein Ministerpräsident noch ein Bundespräsident auch nur einen Euro, wenn er seine Glaubwürdigkeit und die in seinen hohen Ämtern unverzichtbare Würde nicht verspielen will.
Ehre ist ein Begriff und ein Wert, der in Deutschland fast in Verruf geraten ist, jedenfalls aber sehr an Bedeutung verloren hat. Das laut Christian Wulff aber der „Islam zu Deutschland“ gehört und laut aktuellen Geburtsstatistiken der Vorname Mohammed zwischen Flensburg und Konstanz immer weiter in der Rangliste nach vorne rückt, ist eine Renaissance zumindest eines gewissen Verständnisses von Ehre – vorzüglich für Männer - ziemlich gewiss. Vielleicht führt das auch unter den vielen ehrvergessenen Nichtmoslems unter den Deutschen zu einer Neubeschäftigung damit, was Ehre ist und Ehre bedeutet.
Der amtierende Bundespräsident hat in seinem TV-Auftritt eine geradezu erschütterndes Beispiel geliefert, wie ehrlos ein Mann sein kann – und wird sich, was mindestens ebenso niederschmetternd ist, dessen noch nicht einmal annähernd bewusst gewesen sein: Seit Wochen geistern im Internet, aber auch anderen Medien Gerüchte um das Vorleben von Wulffs Zweitfrau Bettina. Diese Gerüchte wollen von einer früheren erotischen Dienstleistungstätigkeit von Bettina Wulff wissen. Eine solche Tätigkeit ist in Deutschland nicht strafbar, moralisch mag sie bewertet werden, wie sie will. Aber natürlich wäre es schon grenzwertig, wenn ausgerechnet ein sich als Katholik bekennender Politiker einer sich christlich nennenden Partei scheiden lässt, um eine Frau mit diesem Vorleben zu ehelichen und auf Staatsempfängen und Staatsbesuchen zu präsentieren.
Für einen Mann in der Position von Wulff blieben bei solchen Gerüchten, die sich gerade in den letzten Tagen intensiviert haben, nur zwei Möglichkeiten: Wenn diese der Grundlage entbehren, also zutiefst bösartig und zutiefst ehrverletzend sind, muss der Präsident diese Gerüchte mit aller Schärfe und verständlicher Verachtung als Lügen brandmarken und rechtlich verfolgen lassen. Das ist er nicht nur seiner Frau, sich selbst, sondern vor allem seinem Amt und dem deutschen Volk schuldig.
Wenn aber diese Gerüchte einen Wahrheitsgehalt haben sollten, kann Wulff nur eines tun: eisern schweigen und auf die inzwischen ja große moralische Toleranz der Gesellschaft hoffen. Was aber macht der Präsident tatsächlich? Er beklagt im Hinblick auf die unschönen Gerüchte diese vor Millionen Deutschen mit dem zweitdenkwürdigsten Satz seiner bisherigen Amztszeit: „Wenn Sie sehen, was da über meine Frau alles verbreitet wird an Phantasien“…
„Phantasien“ – der Gebrauch dieses nebligen Wortes öffnet doch nun der Spekulation über das Vorleben der zweiten Ehefrau erst recht Tür und Tor! Kann es wirklich sein, dass Wulff in der Stunde höchster Not keine klaren, unzweideutigen Worte zu ehrverletzenden Gerüchten der übelsten Sorte findet, sondern diese vielmehr sogar noch befeuert?
Es werden nicht nur die in Sachen Ehre sehr empfindsamen Moslems in Deutschland gewesen sein, für die Christian Wulff seit Mittwoch ein Mann ohne Gefühl für Ehre ist. Die Deutschen haben einen Bundespräsidenten, der zu große Defizite für dieses Amt aufweist.
Wolfgang Hübner, 5. Januar 2012