Richtiges Ziel, fragwürdige Wegweisung
Die Mitgliederversammlung der Partei FREIE WÄHLER – ein Bericht

Die neue Bundespartei FREIE WÄHLER (FW) hat auf ihrer Mitgliederversammlung im unterfränkischen Geiselwind erwartungsgemäß die Beteiligung an der nächsten, voraussichtlich im Jahr 2013 stattfindenden Bundestagswahl beschlossen. In Anbetracht der nicht enden wollenden, sondern im Gegenteil immer mehr eskalierenden Euro-Krise ist diese Entscheidung verständlich und auch richtig. Denn wenn im bürgerlichen Lager keine der etablierten Parteien bereit und willens ist, sich dem absehbar verhängnisvollen Kurs der ruinösen „Rettungsschirme“ zu widersetzen, dann ist es höchste Zeit zur Bildung einer politischen Alternative.
Unter der Führung des FW-Bundesvorsitzenden Hubert Aiwanger, der auch FW-Fraktionsvorsitzender in Bayern Landtag ist, hat die FW-Partei einen Kurs eingeschlagen, der als Euro-kritisch, aber nicht europafeindlich eingeschätzt werden kann. Für eine solche Partei gibt es aus aktueller Sicht ein großes Wählerpotential, das für das notwendige Überspringen der Fünf-Prozent-Hürde mehr als ausreichend sein sollte. Ungewiss ist natürlich, wie sich die Euro-Krise weiter entwickelt und welche neuen Situationen neue politische Bedingungen schaffen. Gegenwärtig ist nicht erkennbar, dass im bürgerlichen Bereich eine andere Partei entstehen könnte mit einer ähnlich flächendeckenden Verbreitung wie die Freien Wähler im gesamten Bundesgebiet.
Allerdings hat die Zusammensetzung und der Ablauf der Bundesmitgliederversammlung in Geiselwind auch eine Tatsache überdeutlich gemacht: Die neue Partei FREIE WÄHLER ist nicht und sogar zunehmend weniger die Partei all der vielen Freien Wähler in Deutschland. Vielmehr ist sie eine Partei, die sich FREIE WÄHLER nennt. Das ist ein bedeutsamer Unterschied. Denn wenngleich auch die allermeisten der heutigen Akteure und Mitglieder der Partei aus lokalen Organisationen der Freien Wähler von Oberbayern bis Nordschleswig kommen, repräsentieren sie nur eine kleine Minderheit der Freien Wähler in ganz Deutschland. Insofern ist der Parteiname irreführend und sogar eine Anmaßung, die ja auch bereits zu vielen Streitereien innerhalb der politisch alles andere als einheitlichen FW-Familie geführt haben.
Es war und ist der aus Niederbayern stammende Bundesvorsitzende Hubert Aiwanger, der nach dem großen Erfolg der Freien Wähler bei der letzten bayerischen Landtagswahl klaren Kurs auch auf die Beteiligung bei Bundestags- und Europawahlen gesetzt hat. Aiwanger hat dafür starke, wenngleich keineswegs vollständige Unterstützung in seinem Stammland. Das spiegelte sich fast schon überdeutlich auch in der Zusammensetzung der in Geiselwind versammelten Mitglieder wider, denn die meisten kamen aus Bayern. Der Bundesvorsitzende hatte deshalb genau das Heimspiel, das er wollte und brauchte. Niemand kann guten Gewissens behaupten, er habe diese Tatsache nicht weidlich ausgenutzt.
Denn Aiwanger und die neue FW-Bundespartei, die sich etwas verkrampft Bundesvereinigung betitelt, haben ein großes Problem, das in Geiselwind so erkennbar wie in den vergangenen Landtagswahlen des Saarlands, Schleswig-Holsteins und Nordrhein-Westfalens belegbar wurde: Der Stärke der FW-Partei in Bayern steht die Schwäche der FW-Partei im restlichen Bundesgebiet gegenüber. Wer in jedem der drei oben aufgeführten Bundesländer noch nicht einmal annähernd auch nur ein Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte, ist nicht nur weit vom Einzug in die Landesparlamente, sondern himmelweit vom Erfolg bei Bundestagswahlen entfernt.
Das ist eine Situation, die keineswegs so bleiben muss, über die aber offen geredet und diskutiert werden muss, soll sie positiv überwunden werden. Die Regie der von Aiwanger in jeder Weise dominierten FW-Parteiführung sah aber nichts weniger vor als kritische Selbsteinschätzungen und Diskussionen. Die Mitglieder waren nach Geiselwind gerufen worden, um unter lautstarkem Jubel die Entscheidung für die Beteiligung an der Bundestagswahl zu vollziehen – was sie auch programmgemäß taten.
Wie dieser wichtigste und folgenreichste Punkt der Tagesordnung abgehandelt wurde, war ein demokratiepolitischer Skandal, der nur deshalb nicht die gebührende öffentliche Beachtung finden dürfte, weil die FW-Partei diese gegenwärtig noch nicht hat. Denn Aiwanger betrat kurz vor der Mittagspause nach einer ganzen Reihe von mehr oder weniger ermüdenden Ansprachen das Rednerpult und richtete in einer auf unangenehme Art an historische Vorbilder gemahnende Art die Suggestivfrage an die Versammlung: „Wollt ihr die Beteiligung an der Bundestagswahl?!“ - und erntete von der überwältigenden Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder begeisterte Zustimmung. Besonders begeistert reagierten bezeichnender Weise diejenigen, die in ihren Bundesländern bislang außer Wahlpleiten nichts vorweisen können, was ihre politische Kompetenz legitimieren könnte.
Zu dem Tagesordnungspunkt „Beteiligung an der Bundestagswahl“ war offensichtlich weder eine Wortmeldung (außer der des Bundesvorsitzenden Aiwangers) noch eine Diskussion vorgesehen oder gar erwünscht. Wer es gewagt hätte, dieser geglückten Überrumplung der Versammlung entgegen zu treten, wäre in der aufgeheizten Stimmung nicht nur gescheitert, sondern auch zum Aussätzigen erklärt worden. Denn das ist eine Tatsache: Ausgerechnet die auf ihre Unabhängigkeit, auf ihre Unangepassheit und Selb-ständigkeit im Denken und Handeln so bedachten Freien Wähler sehen sich jetzt mit einer Bundespartei FREIE WÄHLER konfrontiert, die derzeit eine fast ungeschminkte Führerpartei ist, bei der die Mitglieder zu jubeln haben oder isoliert sind bzw. isoliert erscheinen.
Hubert Aiwanger besitzt zweifellos besondere politische Talente, kann frei reden und kann Versammlungen, die nicht allzu anspruchsvoll sind, spontan begeistern. Es gibt nicht viele, ja eigentlich kaum deutsche Politiker, von denen sich das gleichfalls sagen lässt. Für die CSU dürfte es immer ärgerlicher sein, einen wie Aiwanger nicht in den eigenen Parteiapparat eingespannt haben zu können. In Bayern hat der FW-Politiker mit Sicherheit eine – vielleicht sogar große – Zukunft. Was seine Wirkung jenseits der Grenzen des Freistaats betrifft, ist Skepsis geboten. Grund dafür ist nicht nur Aiwangers etwas exotisch wirkender niederbayerischer Dialekt, sondern seine Bierzelt-Rhetorik, die von keiner Nachdenklichkeit getrübt scheint.
Wie der Bundesvorsitzende über die katastrophalen Ergebnisse der FW bei den schon erwähnten drei Landtagswahlen sprach, das zeigte schon ein Maß an Problemverdrängung und Problembeschönigung, das mehr als fragwürdig ist. Offenbar heißt Aiwangers Motto: „Was nicht passt, wird halt passend gemacht“. Damit kann man lange, sogar ziemlich lange erfolgreich sein, wie ironischerweise gerade die Geschichte des Euro beweist. Aber Probleme, die nicht gelöst werden, fordern am Ende unerbittlich ihren Preis. Und der ist umso höher, je länger die Verdrängung und Beschönigung dauert. Das zentrale Problem der neuen FW-Partei ist, dass sie sich von Tag zu Tag und von Versammlung zu Versammlung immer mehr davon entfernt, die Partei der Freien Wähler zu sein. Denn die sind einfach politisch zu heterogen und auch historisch viel zu unterschiedlich gewachsen, um unter der Zwangsjacke einer Partei glücklich zu werden.
Der Verfasser dieses Berichtes hat viele Jahre gebraucht, um das zu begreifen. Als früher Befürworter einer überlokalen Wahlbeteiligung der Freien Wähler war es ihm lange unverständlich, wieso er dabei auf so harte Widerstände stieß. Aber gerade diese Widerstände zwangen ihn dazu, sich mit dem Problem sehr grundsätzlich zu befassen. Das Ergebnis: Es kann keine Partei der Freien Wähler geben, die mehr als der gemeinsame kleinste Nenner sein könnte, darum jedoch wählerunwirksam wäre. Es kann aber sehr wohl eine Partei geben, die sich den Interessen der überwiegend kommunal arbeitenden Freien Wähler in besonderer Weise verpflichtet fühlt und diese Verpflichtung auch politisch einlöst – in den Landtagen und auch im Bundestag.
Diese Partei, die selbstverständlich stark, aber keineswegs ausschließlich von bereits politisch bewährten Freien Wählern geprägt sein sollte, könnte „Die Freien“ oder auch ähnlich heißen. Aber keineswegs dürfte sie sich „FREIE WÄHLER“ nennen und damit einen Anspruch erheben, die sie nicht einlösen kann und der nur zu Streitigkeiten führen muss und das ja auch längst tut. Schon jetzt ist klar, dass in nächster Zeit alle möglichen politischen Konjunkturritter und Karrieristen in die neue Partei drängen werden. Diese sind übrigens eine wesentlich größere Gefahr als irgendwelche Extremisten, die einen neuen Unterschlupf suchen, aber in der Regel schnell zu entdecken und auszuschalten sind.
Gerade das derzeitige Alleinstellungsmerkmal „Euro-Kritik“ wird diesen Personenkreis anziehen wie Motten das Licht. Verhindern lässt sich das nicht mehr, es wird auch von dem auf Aiwanger eingeschworenen profillosen Führungskreis der neuen Partei gar nicht mehr versucht, wie die Blitzkarriere des in Geiselwind stolz präsentierten Adenauer-Enkels deutlich zeigt.
Doch ob autoritätsgläubige Betonköpfe und Karrieristen oder selbstbewusste, selbstdenkende Freie Wähler mit kommunalpolitisch ausgewiesener Kompetenz das Schicksal der Partei FREIE WÄHLER künftig bestimmen werden, ist auch nach dem in vielerlei Hinsicht zu keinem Optimismus Anlass gebenden Verlauf der Mitgliederversammlung in Geiselwind noch nicht entschieden. Das Projekt einer politischen Alternative zu den im Euro-Sumpf versinkenden bürgerlichen Parteien ist einfach zu wichtig, um jetzt schon das Feld denen zu überlassen, die mit einer keineswegs alternativen Geistes-haltung und fragwürdigen Praktiken sichere Gewähr dafür wären, noch eine Partei, die Deutschland wirklich nicht braucht, aber auch viele aufrichtige Hoffnungen gegen die Wand zu fahren. Der Kampf um die Zukunft dieses Projekts hat in Geiselwind begonnen. Es wäre falsch, diesen Kampf schon aufzugeben, bevor er entschieden ist.
Wolfgang Hübner, 17. Juni 2012