Deutschland 2012: Krankland, Feigland

Russischer Starsänger aus Bayreuth vertrieben

Deutschland 2012: Krankland, Feigland
© g1946 - pixelio.de


Tätowierungen, welche auch immer und egal wo am Körper, sind hässlich. Das ist, zugegeben, nur meine ganz persönliche und deshalb ganz unmaßgebliche Meinung. Bei der jüngst vergangenen Fußball-Europameisterschaft waren oft sehr stark, nicht selten abstoßend hässlich tätowierte Elitekicker zu sehen. Für die Zuschauer in den Stadien war das weniger ein ästhetisches Missvergnügen als für Zuschauer, die so allergisch auf Tätowierungen reagieren wie ich, denn die Kamera rückt die Körper der Spieler erbarmungslos nah ans ferne Auge.

Szenenwechel: Wenn am Mittwoch in Bayreuth die alljährlichen Richard-Wagner-Festspiele beginnen, dann steht als erste Aufführung eine Neuinszenierung vom „Fliegenden Holländer“ auf dem Programm. Der Star in der Titelrolle von Wagners wohl populärster und auch kürzester Oper sollte der russische Bassbariton Evgeny Nikitin werden, ein Mann wie ein Baum mit gewaltiger Stimme, Präsenz und einer Vergangenheit als Heavy-Metal-Schlagzeuger. Diese Vergangenheit samt den zahlreichen Tätowierungen machte den Russen für die Journalisten und Bayreuth-Pilger noch interessanter als seine außergewöhnlichen sängerischen Fähigkeiten: Kein Presse- oder TV-Vorbericht ohne die ausführliche Erwähnung von Nikitins Tätowierungen.

Kurz vor der Premiere im Festspielhaus auf dem Grünen Hügel ist nun die Bombe geplatzt: Nikitin singt nicht in Bayreuth, denn in den Medien war zu lesen und zu sehen, dass der Russe in jungen wilden Jahren seinen Oberkörper mit „SS-Runen und ein handtellergroßes Hakenkreuz“ hat verunzieren lassen. Das ist gewiss in jeder Weise unappetitlich, ändert aber überhaupt nichts an den künstlerischen Qualitäten des Bassbaritons. Und es gibt im „Fliegenden Holländer“ nicht den geringsten Grund, die Titelfigur mit bloßer Brust über die Bühne laufen zu lassen. Noch bei der Generalprobe in der vergangenen Woche war dann auch Nikitin mit von der Partie und muss künstlerisch großen Eindruck hinterlassen haben.

Der aus Murmansk stammende Russe, der vor vielen Jahren mit den unschönen Tätowierungen die Autoritäten in der späten Sowjetunion ärgern und provozieren wollte, ist nach verlässlicher Auskunft von Menschen, die ihn kennen, alles andere als ein „Neonazi“. Doch im Gegensatz zu ehemaligen Linksextremisten wie EU-Präsident Barroso, Ex-Außenminister Fischer oder Grünen-Spitzenpolitiker Trittin, die ihre frühere Gesinnung wenigstens äußerlich problemlos zu leugnen wissen, muss der unpolitische Sänger aus dem Osten nun mit dem Makel leben, ein mit Nazi-Symbolen Gezeichneter zu sein, ja vielleicht gar ein heimlicher Sympathisant derer zu sein, die sein Land einst unterjochen wollten.

In Russland ist all das offenbar kein Problem, denn am weltberühmten Marinskij-Theater in Leningrad ist Nikitin ein Superstar, dazu begehrt auf allen Bühnen der Welt. Er hat übrigens auch schon mit großem Erfolg in Deutschland gastiert - wohl immer in Partien mit Hemd und Jacke. Bislang hat es auch niemanden gestört. Doch Bayreuth ist ja bekanntlich ein ganz besonderer Ort. Dort geistern die braunen Gespenster der Vergangenheit noch immer herum, weil ein Heer von Autoren, Journalisten und Kritikern, besonders anlässlich de Festspiele, ganz gut davon lebt, diese Zombies auch nach siebzig Jahren und unzähligen Reuebekundungen des Wagner-Clans immer wieder zum Leben zu erwecken.

Die jetzigen Bayreuth-Chefinnen Eva und Katharina Wagner sind beide nach dem Krieg geboren, letztere sogar lange danach. Vielleicht deshalb haben die verantwortlichen Damen keine Gesamtkörpermusterung des Russen im Geist des unermüdlichen „Antifaschismus“ und den strengen Auflagen der „Politischen Korrektheit“ veranlasst. Doch sie wussten durchaus um die zahlreichen Tätowierungen des Sängers. Eva und Katharina hatten auch nichts dagegen, dass sich gerade mit diesen grellen Verunstaltungen eines attraktiven männlichen Bassbaritons in den Vorberichten der Medien bestens Werbung für die wegen schwacher Inszenierungen ins Gerede gekommenen Festspiele machen ließ.

Aber nachdem die Nikitin-Tätowierungen in der traditionellen deutschen Musterdisziplin Denunziation zum „Skandal“ gemacht wurden, knickten die Wagner-Erbinnen so schnell ein wie das boxerische Fallobst ansonsten nach einem Treffer der Klitschko-Brüder. Die Botschaft, die nun um die Welt – und keineswegs nur um die Musikwelt! – geht, wird lauten: In Deutschland darf noch nicht einmal ein Russe seine Jugendsünde unterm Hemd tragen, weil das Land sonst Gefahr läuft, dass demnächst doch wieder Adolf Hitler statt Angela Merkel im Kanzleramt nach ganz neuen Auswegen aus der Euro-Krise sinnt.

Deutschland, das zeigt auch der Fall des inzwischen aus Bayreuth abgereisten Sängers Evgeny Nikitin, ist noch immer ein seelisch tiefkrankes Land. Das steht in krassem Kontrast zu seiner wirtschaftlichen und kulturellen Leistungsfähigkeit, um die Deutschland von der Welt beneidet wird. Doch wie schon die aktuelle Beschneidungsdebatte zeigt, ist der Herzstaat Europas sich selbst, seiner Identität und seiner Werte so unsicher, dass nur mit größter Sorge daran zu denken ist, es könnte einmal eine große Krise zwischen Flensburg und Konstanz, zwischen Aachen und Görlitz ausbrechen.

Gerade die unsägliche Bayreuther Groteske um den „Holländer“ mit Hakenkreuz-Tätowierung zeigt auch, wie sehr diese seelische Deformierung Deutschlands das Werk von selbstzerstörerischen Kräften in Medien, Kultur und Politik dieses Landes ist. Denn ein nur halbwegs gesundes, also halbwegs selbstbewusstes Land würde niemals dulden, dass ein mit erheblichen öffentlichen Geldern finanziertes Kulturereignis von höchstem internationalen Rang sich vor aller Welt so lächerlich macht wie es nun geschehen ist. Aber das Deutschland 2012 ist im offiziellen Erscheinungsbild ein Krankland und Feigland zugleich. Ob im Namen einer Mehr- oder Minderheit: Als Bürger Deutschlands und vielgedruckter langjähriger Festspielberichterstatter einer großen Nachrichtenagentur entschuldige mich bei Ihnen, Evgeny Nikitin!

 

Wolfgang Hübner, 23. Juli 2012

Leserkommentare (1)

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Ihr hervorragender Kommentar zeigt sehr aufschlussreich, dass in den sog. Mainstream-Medien nicht so weit gedacht wird, auch wenn die Stellungnahme des Münchner Staatsopernintendanten zunächst einmal richtig und zu begrüßen ist:
„Ich sehe in der Causa Nikitin zunächst mehr ein Problem Bayreuths und der Wagner-Familie als eines des Sängers“, sagte der Münchner Staatsopernintendant Nikolaus Bachler am Montag. „Dass die Torheit eines 16-jährigen Rocksängers, der diese längst bereut und versucht hat, ungeschehen zu machen, ausgerechnet nun von der Wagner-Familie geahndet wird, finde ich verlogen.“ (FOCUS-online vom 23.07.2012. Anm. des Verf.: Sänger oder eigentlich Schlagzeuger - geschenkt.)
Nur wird nicht, so wie in diesem Kommentar exemplarisch geschehen, weitergedacht, WORAUS diese Verlogenheit resultiert - nämlich aus krankhaftem Selbtshass.