Kein Wachstum ohne Nebenwirkungen
Lebensqualität hat ihren Preis

In Zeiten leerer Staatskassen geistert ein „altes Gespenst“ in Europa herum: das Gespenst des wirtschaftlichen Wachstums. Der neue französische Staatspräsident propagiert es, die Bundeskanzlerin Angela Merkel verheißt es, der US-amerikanische Präsident Barak Obama verlangt es und die übrigen Europäer erhoffen es. Nun ist es so eine Sache mit dem Wachstum. Im Produktionssektor scheinen die Wachstumsraten an ihre Grenzen zu stoßen. Zwar wächst die Automobilindustrie in Deutschland noch, der Autohersteller Audi beispielsweise verzeichnete im vergangenen Jahr eine Wachstumsrate von rund 13 %, allerdings werden die zum Autofahren notwendigen Straßen im voller, so dass sich der Absatz mehr und mehr ins Ausland verlagert.
Der Maschinenbau in Deutschland verzeichnet ebenfalls Gewinne, nur ist hier der Absatz nicht einfach, weil die deutschen Produkte technisch hervorragend und somit sehr teuer sind. Gleichzeitig ist der produktive Sektor stets mit Emissionen verbunden, was Anwohner größerer Gewerbegebiete, von denen es in Deutschland aufgrund der dichten Bebauung eine Menge gibt, zum zunehmenden Widerstand übergehen lässt. Es ist eben schön seinen Arbeitsplatz in der Nähe zu haben, aber weniger schön den Lärm und Gestank im eigenen Garten ertragen zu müssen.
Der Dienstleistungssektor verheißt keine vielversprechende Zukunft. Seit langem ersetzen Firmen sowohl größerer wie mittelständischer Herkunft ihre Arbeiter und Angestellten wo sie nur können gegen elektronische bzw. technische Hilfen, die günstiger, langlebiger und in den meisten Fällen weniger anfällig sind. Trotz dieser Entwicklung gibt es immer wieder Branchen, die wachsen. Zu ihnen zählt der sogenannte „Finanzdienstleistungssektor“ oder auch weniger verklausuliert ausgedrückt: die Banken. Hunderttausende von Menschen arbeiten mit dem Geld anderer Menschen auf der internationalen Finanzbühne, die vor einem riesigen Abgrund zu stehen scheint. So hoch wie die einzelnen Finanzblasen (Immobilien-, Derivat-, Aktien- und Devisengeschäft etc.) in die Höhe gestiegen sind, so tief können sie morgen herunterfallen. Ein gefährlicher Sektor also, dem man nicht unbedingt weiteres Wachstum wünschen möchte, vor dem Hintergrund einer eventuell schon sehr bald auf ihn zukommenden Entlassungswelle.
Bleiben die Gastronomie und die Pharmaindustrie als verheißungsvolle Wachstumsaspiranten. Allerdings wird nur so lange gut gespeist und getrunken, so lange sich dies eine Wohlstandsgesellschaft leisten kann. Vorsicht sei den Gastronomen und Hoteliers, die ohnehin schon stark von Messe und Urlaubszeit abhängig sind, empfohlen. Sie sollten lieber Rücklagen für eine „saure Gurkenzeit“ bilden. Die Pharmaindustrie wiederum hängt am Tropf des kassenärztlichen Sozialstaates. Geht es dem Staat und seinen Krankenkassen schlecht, ist es in der Regel auch schnell vorbei mit der Herstellung mehr oder weniger teurer „Wohlfühltabletten“.
Wie schwer es mit dem Wachstum ist, zeigt sich in kaum einer anderen Stadt deutlicher, als in Frankfurt am Main, dem Herz einer großen Region. Der Ausbau des Flughafens mit seiner neuen Landebahn sollte den Wachstumsmotor nicht nur am Laufen halten, sondern sogar beschleunigen. Das Gegenteil scheint nun der Fall zu sein. Der wütende Vorstandsvorsitzende des Flughafenbetreibers Fraport, Dr. Stefan Schulte, erkannte wohl mit als Erster, dass die neue Landebahn der Anfang vom langsamen Ende des Weltflughafens Frankfurt Rhein-Main sein wird. Langsam kristallisiert sich heraus, dass sich ein 24-Stunden Weltflughafen mit vielen Millionen Tonnen Fracht und über 54 Millionen Passagieren pro Jahr nicht mit einem regelmäßigen sechs- und vielleicht bald achtstündigen Nachtflugverbot abwickeln lässt. Die Ausgleichszahlungen an lärmgeschädigte Nachbarn des Flughafens sollen mehr und mehr vom Flughafenbetreiber alleine geleistet werden. Die finanziell schwachen Kommunen wollen sich aus der Verantwortung stehlen, obwohl doch auch sie vom Flughafen als „Jobmotor“ profitieren. Die geplagten Bürger wollen den lärmenden und kerosinverschlingenden Flughafen nicht mehr. St. Florian greift wie ein aggressiver Virus um sich. Fliegen ja, aber nicht über mir.
Nicht anders verhält es sich mit dem ehemaligen Höchst-Gelände. Der Gestank nervt seit langem die Bürger in Höchst, Griesheim und Nied. Immer gedrängter wirkt die Situation im und um das Infraserv-Gelände, dass weiterwachsen würde, wenn es doch nur könnte. An anderer Stelle im Osten der Stadt ist das Bild ähnlich. Jede kleinste Regung auf dem Alessa-Gelände in Fechenheim wird argwöhnisch beäugt. Feinstaub, Ruß oder Gas drohen zu einer Verschlechterung der Lebensqualität und zum Verlust des Immobilienwertes, ja vielleicht sogar des eigenen Lebens zu führen. Und so scheint eine ganze Region, die dicht gedrängt in doch recht wohlhabenden Verhältnissen lebt, nicht viel zu halten vom Wachstum, wenn es denn in der unmittelbaren Nachbarschaft stattfindet. Der Verkehr soll leise und weniger werden, die Nachtruhe streng eingehalten und das Grün der Parkanlagen und Stadtwälder mehr werden.
Und so scheinen wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts am Ende des Wachstums angelangt zu sein. Für immer mehr Menschen gibt es immer weniger Arbeit. Immer enger zusammenwachsende Regionen und ihre Bürger schreien nach immer mehr Ruhe, Geborgenheit und nachbarschaftlichem Frieden. Das Gespenst des wirtschaftlichen Wachstums gilt es zu enttarnen. Wachstum ohne Menschen, die es trägt, bleibt ein Gespenst, das Angst verbreitet, insbesondere nachts, wo ein jeder doch am liebsten in Ruhe Schlafen möchte.
Patrick Schenk, 6. August 2012