Der wahre Skandal um die Adorno-Preisträgerin
Warum der Frankfurter Magistrat dem jüdischen Protest widerstand

Letzte Woche hat die amerikanische Philosophin Judith Butler in der Frankfurter Paulskirche den Adorno-Preis 2012 verliehen bekommen. Ein Grund für eine kurze Nachbetrachtung, denn die Umstände dieser Verleihung laden zum kritischen Nachdenken ein.
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Seit 1977 wird der Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main alle drei Jahre zur Anerkennung herausragender Leistungen in den Bereichen Philosophie, Musik, Theater und Film verliehen. Er ist mit 50.000 Euro dotiert. Somit versteht sich von selbst, dass die Preisträgerin von den städtischen Verantwortlichen inhaltlich akzeptiert wird und somit auch vom Kuratorium als "eine der maßgeblichen Denkerinnen unserer Zeit" betitelt wurde.
Im Vorfeld der Verleihung war es zu einem kuriosen innerjüdischen Streit gekommen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland mischte sich in die Verleihung ein und warf Butler vor, zum Boykott gegen Israel aufzurufen und Organisationen wie Hamas und Hisbollah zu legitimieren. Der schon häufiger durch reichlich zügellose Äußerungen aufgefallene Generalsekretär Stephan J. Kramer begab sich in außenpolitische Gefilde, als er verlautbarte: „Eine bekennende Israel-Hasserin mit einem Preis auszuzeichnen, der nach dem großen, von den Nazis als `Halbjude´ in die Emigration gezwungenen Philosophen benannt wurde, kann nicht als bloßer Fehlgriff gelten.“ Auch aus Israel kamen scharfe Proteste.
Interessant an der Preisverleihung aber ist nicht dieser Streit, sondern die Verschiebung der ideologischen Gewichtung bei den Verantwortlichen der Entscheidung. Trotz massiver Kritik von jüdischer Seite und der Gefahr, als Begünstiger des Antisemitismus angegriffen zu werden, blieb beispielsweise Kulturdezernent Felix Semmelroth (CDU, früher SPD) ungewöhnlich standhaft. Das war nicht nur der Tatsache geschuldet, dass Semmelroth faktisch ein Grüner ist und deren konsequenter kulturpolitischer Sachwalter. Auch der gesamte Magistrat ließ sich nicht von den jüdischen Protesten beirren - ganz im Gegensatz zu früheren Konflikten ähnlicher Prägung. Warum war das so?
Hierzu muss man die ideologischen Hintergründe Butlers kennen. Die 56-jährige lehrt Rhetorik und Literaturwissenschaft an der University of California in Berkeley. Die „Zeit“ schrieb, sie stehe sowohl „in guter Tradition der Kritischen Theorie als auch der amerikanischen Dekonstruktion“. Vor allem aber ist sie als Urgestein der feministischen Theorie in Erscheinung getreten. Dabei stieß sie 1990 mit ihrer Schrift „Das Unbehagen der Geschlechter“ die so genannte „Queer“-Theorie an. Diese behauptet, dass die geschlechtliche Identität nicht auf genetischen bzw. natürlichen Grundlagen beruhe, sondern nur durch soziale und kulturelle Prozesse „konstruiert“ würde. Es gäbe also gar keine festgelegten Männer und Frauen, wenn diese nicht durch gesellschaftliche Machtstrukturen faktisch dorthin getrieben würden. Letztlich soll die „Queer“-Theorie durch das Hinterfragen sexueller Identitäten bestehende „Machtstrukturen“ und soziale Normen „dekonstruieren“, also zersprengen.
Es verbirgt sich also hinter Butlers Theoriekonstrukt ein bislang weltgeschichtlich einmaliger Angriff auf die Polarität der Geschlechter. Und dieses Konstrukt hat es im Zuge der vielfältigen aktuellen „Gender“-Aktivitäten im Bildungsbereich mittlerweile bis in den Bereich der offenen Unterstützung durch die hohe Politik geschafft. Die „Queer“-Theorie ist dabei nur ein Teilbereich eines weitreichenden „Dekonstruktions“-Projekts, dass auch andere kollektive Identitäten, etwa der Rasse oder der Nation, grundsätzlich in Frage stellt. Ziel ist letztlich der Aufbau einer neuen Herrschaft von Sozialutopisten, die „Dekonstruktion“ dient als Mittel der Verunsicherung scheinbar „rückständiger“ Bürger.
Auf der Internetseite Wikipedia wird im Eintrag zu „Judith Butler“ erklärend verlautbart: „Durch Dekonstruktion gelte es, Spielraum für ein Erproben von alternativen Geschlechtsidentitäten, queer identities, zu schaffen. Queer ist hierbei nicht als ständig wechselbare Identität gedacht. Ziel sei vielmehr, (…) zur Geschlechter-Verwirrung anzustiften. Damit können Strategien der Vervielfältigung mobilisiert werden, die die Festlegung von Geschlechtsidentitäten angreift und überschreitet.
Butlers Konzept der Subversion setzt voraus, dass Subjekte, die gegebene Geschlechtsidentitäten annehmen, zwangsläufig inkohärente Konfigurationen erzeugen, die durch die Valenz überschneidender und widersprüchlicher Diskurse Widerstand hervorrufen. Durch diese Koexistenz der Diskurse entsteht die Möglichkeit der Rekonfiguration und Neu-Einsetzung: zum Beispiel durch Parodie, Travestie oder andere experimentelle Praktiken.“
Judith Butler, „wie viele aus diesem Theoriemilieu homosexuell und kinderlos“ (Michael Klononsky), liefert somit weder ein persönliches Vorbild für den Fortbestand und das Gedeihen der menschlichen Art, noch gibt sie nützliche Antworten auf die anstehenden sozialen und ethischen Probleme. Ihre Theorie ist für die Problematik der Demographie, des sinkenden Bildungsniveaus, der Kindererziehung, der Verbesserung des sozialen Zusammenhalts schlicht unbrauchbar.
Dennoch hat diese „Queer“-Theorie derzeit eine solche Macht, dass die städtischen Verantwortlichen eher fürchten, es sich mit Feministen und „Gender“-Ideologen zu verscherzen, als mit den jüdischen Organisationen und deren offenbar abgenutzter „Antisemitismus“-Keule. Das ist fürwahr ein bemerkenswerter Paradigmenwechsel, der zeigt, dass die große Zeit der „Vergangenheitsbewältigung“ sich offenbar wirklich ihrem Ende zuneigt. Unverhohlener feiern stattdessen zwielichtige linke Ideologien ihren Narrentanz. Hier nun in Gestalt einer kurzhaarigen Feministin, die dem attraktiven Frauen stets zugeneigten Adorno übrigens nicht unbedingt gefallen hätte.
In der Laudatio erklärte Eva Geulen, eine ebenfalls mit „Gender“-Theorien befasste Frankfurter Universitäts-Professorin und Butler-Förderin, dass Butlers Werk, „stets intensiv verstrickt mit der aktuellen Sache“ sei. Möglichenfalls sei sie der Typ einer neuen Generation von Intellektuellen: „Nicht das hofierte Gewissen der Nation, sondern kosmopolitisch, umstritten und streitbar.“
Doch nicht nur, dass Judith Butler im Zusammenhang mit dem Palästina-Konflikt von zwei Völkern geschrieben hat, obwohl dies nach dekonstruktiver Lesart nicht konsequent sein dürfte. Sie schloss den Streit um ihre Preisverleihung in einer Wortmeldung für sich selbst interessanterweise mit einer Bemerkung ab, die unter konsequent „antirassistischen“ Gesichtspunkten als „rassistisch“ eingestuft werden müsste. Sie schrieb: „Vielleicht wäre aus dem `Streit´ um meine Ansichten zu lernen, dass Juden einfach kompliziertere Menschen sind, dass sie nur selten miteinander übereinstimmen, dass ihre Streitlust Teil einer wertvollen talmudischen Tradition ist…“
Stellt man diese Aussage vom Kopf auf die Füße hegt folglich Butler die Vermutung, dass Nicht-Juden offenbar in ihrem Denken schlichter seien und über weniger diskursive Streitkultur verfügten. Aber wäre dies nicht auch kollektive Zuschreibung, ein „Konstrukt“ hinsichtlich kollektiver Eigenschaften? Proteste von „antirassistischen“ Gruppen, die sonst so gerne gegen jede mögliche kollektive Erhöhung und Herabstufung ihre Stimme erheben, waren diesmal übrigens keine zu vernehmen.
Marlis Lichtjahr, 19. September 2012