Die ausgepresste Mittelschicht
Zu Walter Wüllenwebers Buch „Die Asozialen“

In letzter Zeit gibt es in Politik und Medien eine Diskussion über größere steuerliche Belastungen für Reiche. Dabei bleibt es meist sehr nebulös, wer eigentlich als reich gelten kann. Aber unklar ist ja auch, wer in dem wohlhabenden Deutschland eigentlich als arm betrachtet werden muss. Sicher ist nur die Existenz einer immer noch großen, mehrheitlichen Bevölkerungsgruppe, die als Mittelschicht bezeichnet werden kann. Diese Bezeichnung gibt selbstverständlich nur Sinn, wenn auch eine Ober- und eine Unterschicht existiert.
Wie sich diese drei Schichten zueinander verhalten, was sie gemeinsam haben und was sie trennt, vor allem aber wer der Zahlmeister unter ihnen ist – darüber hat der Journalist Walter Wüllenweber kürzlich ein Buch mit dem provokativen Titel „Die Asozialen“ verfasst. Es ist keine Lektüre für die zahlreichen Priester und Gläubige der sogenannten „Politischen Korrektheit“, aber gerade deshalb lesenswert. Schon der Untertitel des Buches macht deutlich, wie brisant das Gesellschaftsbild ist, das Wüllenweber zeichnet: „Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren – und wer davon profitiert“.
Würde der Autor nur schildern, wie eine winzige, aber über riesige Vermögen verfügende Oberschicht trotz Finanzkrise immer reicher wird, weil ihre Abgaben an den Staat immer geringer geworden sind, wäre dem Buch der ungetrübte Beifall aus dem linken und linksliberalen Lager gewiss. Doch dass Wüllenweber einen sehr kritischen Blick auch auf die reale Lebenslage der Unterschicht und der von ihr mächtig profitierenden Sozialindustrie wirft, macht ihn zur Unperson für alle, die sich zum Ziel gesetzt haben, mit einem kräftigen Aderlass der Reichen das soziale Niveau trotz unaufhörlicher öffentlicher Verschuldung noch einige Zeit halten und nebenbei ihre eigene Position in Politik oder Sozialverbänden behaupten zu können.
Wäre in dem Buch nur darauf hingewiesen worden, dass das reichste Prozent der Deutschen 36 Prozent des gesamten Volksvermögens besitzt und das reichste Promille (0,1Prozent) allein fast 25 Prozent – Wüllenweber könnte sich vor Einladungen der SPD, der Grün en und auch der CDU-Sozialausschüsse, von Wohlfahrtsverbänden ganz zu schweigen, nicht retten. Doch gerade für letztere wird künftig der Autor eine höchst unerwünschte Person sein. Denn dieser richtet das Licht auf einige Tatsachen, die in der öffentlichen Diskussion kaum bekannt und noch weniger diskutiert werden: Die Sozialindustrie ist mit über zwei Millionen Beschäftigten Deutschlands größte Branche. Fast dreimal so viele Menschen sind dort tätig wie in der Autoindustrie, jeder sechste Steuereuro wird an die Caritas, Diakonie oder Arbeiterwohlfahrt weitergeleitet.
Damit hat die Sozialindustrie in Deutschland nicht nur eine gewaltige ökonomische Bedeutung - auch politisch ist sie eine Macht, die in den Parteien und Parlamenten massiv vertreten ist. Für die Spitzenfunktionäre und politischen Lobbyisten der Sozialindustrie gibt es kein anderes Bestreben als den weiteren Ausbau ihrer ohnehin immer stärker gewordenen Stellung im Staat. Mit nichts lässt sich das so gut erreichen wie mit der Mär vom nahezu selbstlosen Samaritertum in der eiskalten Gesellschaft des Kapitalismus. Finanziert wird das alles jedoch keineswegs von denen, die von dieser Gesellschaft am allermeisten profitieren, nämlich die Reichen und Superreichen. Zahlen müssen vielmehr all jene, die arbeiten, Steuern, Sozialbeiträge, Abgaben zahlen und nicht als „arm“ gelten.
Das Zauberwort der prosperierenden Sozialindustrie lautet „Armut“. Zwar hat „Armut“ in Deutschland überhaupt nichts zu tun mit der Armut, die in weiten Teilen der Welt nach wie vor herrscht. Aber die Funktionäre, Ideologen und Sozialpolitiker haben es verstanden, Armut hier zu Lande ökonomisch so zu definieren, dass Millionen als „arm“ gelten und noch mehr Millionen als von Armut bedroht angesehen werden sollen. Der neue Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann, ehemals bei der Arbeiterwohlfahrt beschäftigt, hat beispielsweise beträchtlichen Erfolg mit seinem Klagelied über „Kinderarmut“ in der Stadt gehabt.
Wüllenweber, der viel im Milieu der Unterschicht, also der „Armen“ recherchiert hat, kommt zu einem ganz anderen Ergebnis: „Dabei wird der Alltag in den Unterschichtvierteln gerade nicht von materiellen Entbehrungen geprägt, sondern von Spielkonsolen, Smartphones, Computern und vom Fernsehprogramm. Es ist der größte Erfolg des deutschen Sozialstaats, die materiell Armut besiegt zu haben.“ Und der Autor setzt mit Blick auf das reale Leben der Unterschicht noch einen drauf: „Ihr zentrales Problem ist die Armut im Geiste. Arbeitslosigkeit, Krankheit und die Überforderung mit der Erziehung der Kinder sind sämtlich Folgen des Bildungsmangels.“
Wüllenweber klagt - ähnlich wie Thilo Sarrazin in seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ – nicht eine „Armut“ an, die ohnehin als eine relative Armut charakterisiert werden muss, sondern die Perspektivlosigkeit einer überteuerten Sozialbürokratie, die sich selbst immer fetter ernährt, denjenigen aber, denen sie helfen soll, nur völlig unzureichend Hilfe zur Selbsthilfe vermittelt.
Allerdings unterschlägt der Autor ein zentrales Problem der deutschen Unterschicht völlig, nämlich deren ethnische Zusammensetzung. Selbstverständlich weiß auch Wüllenweber, dass große Teile dieser Unterschicht und damit auch große Teile der Empfänger von öffentlichen Transferleistungen Einwanderer oder Menschen mit Einwanderungsherkunft sind. Ebenso wird ihm bekannt sein, welche kulturellen Hintergründe in dieser Personengruppe dominierend sind.
Doch selbst der Verfasser des in vielerlei Beziehung politische unkorrekten Buches wagt es nicht, diesen unerlässlichen Gesichtspunkt bei der Betrachtung der Unterschicht-Problematik näher in Augenschein zu nehmen. Gleichwohl sei die intensive Lektüre von „Die Asozial“, erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt, allen empfohlen, die etwas genauer wissen wollen, wie Deutschland heruntergewirtschaftet wird – und wer davon bestens profitiert.
Wolfgang Hübner, 24. Oktober 2012