Oberschwester Petra und ihr Pflegefall
Die CDU soll eine Kopie der Grünen werden

Schweigen ist bekanntlich Gold. Doch mehr Freude macht manchen Menschen das Schwatzen, Plappern und Plaudern. Besondere Freude haben daran Politiker im Ruhestand. Zwar hat unsere vor einigen Monaten aus dem Römer geschiedene ehemalige Oberbürgermeisterin und verhinderte Bundespräsidentin Petra Roth nicht ganz die Bedeutung und Ausdruckskraft des unermüdlich Zigaretten rauchenden und dabei Interviews gebenden Uraltbundeskanzlers Helmut Schmidt. Deshalb gibt Frau Roth auch keine Kommentare zur Weltpolitik oder Weltökonomie ab, sondern beschränkt sich – bislang jedenfalls – auf ein Thema, bei dem ihr verschärfte Kompetenz nicht abgesprochen werden kann: den Zustand ihrer Partei CDU.
Mit einiger Heiterkeit konnte deshalb der politisch interessierte Leser einer Frankfurter Tageszeitung auf deren Titelseite in großen Lettern lesen: „Petra Roth rechnet mit der CDU ab“. Als ich das staunend zur Kenntnis nahm, kam mir spontan der Gedanke: Donnerwetter, das ist unsere Opern-Freundin aus Nieder-Erlenbach doch ganz knapp der Überschrift „CDU rechnet mit Petra Roth ab“ zuvorgekommen. Denn nach dem Fiasko bei der OB-Wahl, das bekanntlich nicht zuletzt einer völligen Fehlkalkulation von Frau Roth zu verdanken war, gäbe es in der örtlichen Partei allen Grund zum Hadern mit ihrer langjährigen Frontfrau. Nun aber bekommt die CDU gar eine von den großen Presseagenturen bundesweit verbreitete verbale Breiseite ins ohnehin leckende Schiff gefeuert, die auch nicht gerade die Stimmung auf der Partei-Titanic heben dürfte.
Anlass für Petra Roths „Abrechnung“ war die erneute Großstadtpleite der CDU bei der OB-Wahl in Stuttgart, wo ein Grüner sich gegen den Kandidaten von CDU, FDP und Freien Wählern durchsetzte. Dabei müsste dieses Ergebnis gar nicht für große Aufregung bei Frau Roth sorgen, hat sie doch in der Spätphase ihrer Amtszeit nichts unversucht gelassen, die Grünen auf Kosten ihrer eigenen Partei immer einflussreicher zu machen. Nehmen wir aber verständnisvoll zur Kenntnis, dass unsere ehemalige Oberbürgermeisterin jetzt in einem Alter ist, in dem das Erinnerungsvermögen manchmal ebenso nachlässt wie die Fähigkeit zu selbstkritischen Einsichten.
Betrachten wir also Petra Roth als eine Art Oberschwester, die sich um den Pflegefall CDU kümmern will. Welche Gebrechen plagen die Partei? Oberschwester Roth zufolge ist die Bundespartei mit ihrem „modernen, intellektuell-pragmatischen Stil“ eigentlich kerngesund, hingegen leiden die Landesverbände – sicher ganz besonders der ihr bestens vertraute hessische Landesverband – an fehlender „urbaner Modernität“. Was Oberschwester Petra unter „urbaner Modernität“ versteht, verrät sie auch: „Man hat zwar getuschelt, wenn ich mich für Ausländer, Integration, Drogenpolitik, Ganztagsschulen oder Frauenemanzipation eingesetzt habe. Aber das sind alles Themen, die eine moderne Großstadtpartei auf dem Sender haben muss.“
Seltsam nur: All diese Themen hat die Frankfurter CDU seit Beginn der 17 Jahre währenden Roth-Ära immer stärker im Angebot gehabt, ist dabei aber immer schwächer geworden. Und der von Roth selbst als Nachfolger vorgesehene Boris Rhein wurde den Wählern so weichgespült präsentiert, dass der Kandidat sich am Ende selbst nicht mehr richtig erkannte. Das Ergebnis dieser offensichtlichen Selbstverleugnung des derzeitigen hessischen Innenministers ist bekannt. Denn es ist schon so, wie Oberschwester Petra nunmehr, wenngleich mit etwas Verspätung, erkennt: „Gewählt wird derjenige, der den Bürgern die größte Authentizität vermittelt“. Wo Oberschwester Petra recht hat, hat sie ganz einfach recht.
Damit nicht genug, weiß die Politikerin im Unruhestand auch, warum die Grünen in den Großstädten Erfolg haben, die CDU jedoch immer weniger: „Wir haben immer mehr das Funktionieren der Marktwirtschaft in den Mittelpunkt gerückt, das andere haben wir liegen gelassen. Ich stelle fest, dass es mehr als wichtig ist, die Natur und die Ressourcen zu schützen. Es gibt in der CDU Menschen, die auch so denken. Die müssen aber den Mut haben, zu kandidieren. Dann wird es auch in der Großstadt wieder klappen.“ Oberschwester Petra rät also ihrem Pflegefall, den Grünen noch ähnlicher zu werden als ohnehin schon.
Das wirft die Frage auf, warum sich die CDU nicht besser gleich in den Grünen, die ja lauthals ihrer Bürgerlichkeit betonen, auflösen. Denn wer braucht schon die Kopie, wenn er auch problemlos das Original haben kann? Die Äußerung provoziert auch den Hinweis, dass in all den Jahren des Ringens um den Ausbau des Frankfurter Flughafens niemand anderes das (vermeintliche) „Funktionieren der Marktwirtschaft“ so bedingungslos vor den Schutz der Natur und der Ressourcen sowie der Belastungsfähigkeit ganzer Stadtregionen in den Mittelpunkt gestellt hat wie Oberschwester Petra.
Erst nachdem die dramatischen Folgen des Ausbaus nicht mehr zu leugnen und unüberhörbar geworden waren, gab die Politikerin nicht nur überraschend ihren vorzeitigen Rückzug vom Amt bekannt, sondern wollte sich auch nicht mehr zu einem Projekt bekennen, das sie so lange Jahre verteidigt und vorangetrieben hatte. Glaubwürdiger ist Petra Roth damit nicht geworden. Der politische Pflegefall CDU ist ohne Zweifel intensivster Betreuung bedürftig. Allerdings ist Oberschwester Petra für diese schwierige, wahrscheinlich sogar hoffnungslose Aufgabe so wenig geeignet wie Joachim Löw für ein Erfolgsrezept gegen die Kicker von Italien und Spanien.
Wolfgang Hübner, 27. Oktober 2012