Mit dem Volk verschwindet die Trauer
Nachgedanken zur Volkstrauertag-Feier 2012

Die diesjährige Feierstunde am Volkstrauertag in der Frankfurter Paulskirche war besonders bewegend und eindrucksvoll. Denn sie war den jüdischen Soldaten gewidmet, die im Ersten Weltkrieg tapfer für ihr deutsches Vaterland kämpften und starben. Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt verlasen erschütternde Feldpostbriefe ihrer gefallenen Glaubensbrüder, die uns Heutigen nachdrücklich ins Bewusstsein riefen: Diese jüdischen Soldaten waren Patrioten durch und durch. Und sie wollten mit ihrem Einsatz an der Front ein für allemal der völligen Gleichberechtigung der Juden in Deutschland dienen.
Es ist eine untilgbare Schande der deutschen Geschichte, dass und wie während der Zeit des Nationalsozialismus die jüdischen Veteranen des Ersten Weltkriegs gedemütigt, entehrt, vertrieben und ermordet wurden. Trotzdem fand der Hauptredner der Feierstunde, Oberstleutnant Gideon Römer-Hillebrecht, nicht nur mahnende, sondern mehr noch versöhnliche Worte zum heutigen Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen. Selbstverständlich ist das nicht, denn der hohe Offizier im Generalstab der Bundeswehr ist selbst Jude. Als solchem fiel es ihm wahrscheinlich jedoch leichter, die Besucher daran zu erinnern, dass ein Volk, das seiner Gefallenen nicht gedenke, keine Zukunft habe.
Das war eine Erinnerung, die nicht ohne Grund erfolgte, wie bereits ein Blick in die nur spärlich besetzte Paulskirche zeigte: Fast nur ältere und alte Menschen hatte an diesem Sonntagmorgen den Weg in die Geburtsstätte der deutschen Demokratie gefunden. Von den politischen Repräsentanten der Stadt waren nur die Stadtverordnetenvorsteherin und der Kämmerer, beide CDU, erschienen. Doch weder der SPD-Oberbürgermeister noch der grüne Bürgermeister nahm an der Feierstunde teil. Die FREIEN WÄHLER waren immerhin mit ihrem Fraktionsvorsitzenden und mit ihrem ehrenamtlichen Stadtrat vertreten, die anderen dem Stadtparlament angehörigen Parteien hatten Leute aus der zweiten oder dritten Reihe geschickt, Linkspartei und Piraten ignorierten das Gedenken.
Bedenklich muss aber weniger das Ausbleiben einer größeren Zahl politischer Repräsentanten stimmen als die fast vollständige Abwesenheit von jungen und jüngeren Menschen an der Feierstunde in der Paulskirche. Setzt sich diese Entwicklung fort, dann ist schon in einigen Jahren kaum noch jemand da, um der Millionen gefallener oder in Kriegsgefangenschaft gestorbener deutscher Soldaten, der im Bombenkrieg und auf der Flucht ums Leben gekommenen Frauen, Männer und Kinder in würdiger Weise zu gedenken. Diese Entwicklung vollzieht sich in der globalisierten „Vielfalt“-Stadt noch weit schneller als an anderen Orten Deutschlands, wo es aber auch nicht viel besser aussieht.
Verwunderlich ist diese sittlich fatale Entwicklung aus mehrerlei Gründen nicht: Zu wenig ist bei Volkstrauerfeiern dieser Jahre von den eigenen Opfern, also den deutschen Opfern, die Rede. Zu sehr wird der – sicher gutgemeinte, aber untaugliche – Versuch unternommen, gleich aller Opfer auf der ganzen Welt zu gedenken. Damit wird aber die jedem Volk zustehende, fast allen anderen Völkern auch selbstverständliche Trauer um die in den Kriegen verlorenen eigenen Töchter und Söhne relativiert. So wie aber Menschen um einen nahestehenden Toten anders und emotionaler trauern als um einen fremden Menschen, so ist auch dien Trauer um die Angehörigen des eigenen Volkes nun einmal anders und emotionaler.
Bestreiten kann das nur, wer mit dem Begriff Volk und seinem Selbstverständnis als Teil eines Volkes nichts mehr anfangen kann oder will. In Deutschland ist dieses Unvermögen und Unwillen in fast schon extremer Weise ausgeprägt. Kaum einer der politischen Führer jedweder Couleur nimmt das Wort „Volk“ noch in den Mund, umso eher ist von „Bevölkerung“ die Rede. Letzteres meint aber in der Regel nur noch eine territorial begrenzte Konsum- und Sozialgemeinschaft, keineswegs aber das, was ein Volk auch und nicht zuletzt ist: eine Schicksalsgemeinschaft. Gewiss haben gerade die Deutschen im 20. Jahrhundert eine Überdosis tragisches Schicksal verursacht und selbst schlucken müssen. Doch all die Toten zweier Weltkriege und der nationalsozialistischen Mordmaschinerie sind begraben, weder die späte Reue noch die ritualisierten Bußübungen der Söhne und Enkel der Opfer und Täter können diese Toten lebendig machen.
Wir Nachgeborenen dürfen sie allerdings auch nicht vergessen - auch nicht jene deutschen Soldaten, die vor Verdun oder in Stalingrad auf fremder Erde ihr Leben lassen mussten. Kaum einer von ihnen wollte in so jungen Jahren fürs Vaterland oder den „Führer“ sterben, und doch war ihnen dies schreckliche Schicksal beschieden. Ihr Opfer – so sinnlos es aus heutiger Sicht auch erscheinen mag – ist Teil der Geschichte des deutschen Volkes, unseres Volkes. Wir werden keine Zukunft haben und keine Zukunft verdienen, wenn uns das nicht bewusst wird. Erst wenn am Volkstrauertag viele junge Gesichter in der Paulskirche sitzen, wird Hoffnung auf diese Zukunft erlaubt sein. Ansonsten wird mit dem Volk auch die Trauer verschwinden. Dann aber wären wir nur noch wohlgenährte Barbaren.
Wolfgang Hübner, 19. November 2012