Erinnerungswille statt Erinnerungszwang
Zur Kritik des totalitären Moralismus

Der Magistrat der Stadt Frankfurt hat eine Bau- und Finanzierungsvorlage für die Gedenkstätte an die Judendeportationen im Neubau der Europäischen Zentralbank (EZB) beschlossen. Wenn nun diese Vorlage den Stadtverordneten zur Entscheidung präsentiert wird, werden die FREIEN WÄHLER im Römer ihre Zustimmung geben. Die FW-Stadtverordneten werden das tun, um ihre Verbundenheit mit den mehr als 10.000 jüdischen Bürgerinnen und Bürgern Frankfurts zu dokumentieren, die von der ehemaligen Großmarkthalle (jetzt EZB) aus in den Jahren 1941 bis 1945 zu den Konzentrationslagern verschleppt wurden.
Die FW-Fraktion wird anlässlich der Vorlage des Magistrats allerdings kritisch Position zur Erinnerungspolitik in Frankfurt beziehen. Konkreten Anlass dazu bietet eine Äußerung von Kulturdezernent Semmelroth (CDU), der im Zusammenhang mit der Bau- und Finanzierungsvorlage, die Kosten von rund 8 Millionen Euro kalkuliert, von einer „fortdauernden Verpflichtung“ der heute und künftig Lebenden sprach, die Erinnerung an die Juden-Deportationen wachzuhalten. Damit hat der Kulturdezernent jedoch einen Anspruch erhoben, der totalitäre Züge trägt, und noch dazu weniger denn je und künftig überhaupt nicht mehr einlösbar ist. Wer Erinnerung erzwingen will, wird tatsächlich den Willen zur Erinnerung schwächen, ja gar zerstören.
Denn es gibt weder eine Erinnerungspflicht noch Erinnerungszwang, vielmehr kann es nur einen individuell freiwilligen Erinnerungswillen geben. Dieser ist in Anbetracht der jüngeren deutschen Geschichte erwünscht und für nachdenkliche Deutsche auch meist eine Selbstverständlichkeit. Doch gerade für diese nachdenklichen Deutschen ist es eine Zumutung, wenn Politiker von einer „Verpflichtung“ zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen reden. Denn die kollektive Verpflichtung zu einer moralischen oder politischen Haltung ist Ausdruck totalitären Denkens, das die Individuen zu etwas zwingen will, was nur jeder einzelne Mensch selbst zu entwickeln mag – oder eben auch nicht.
Die künftige Gedenkstätte in der EZB wird die Besucher damit konfrontieren, dass von diesem Ort aus für jüdischem Bürgerinnen und Bürger der Stadt Frankfurt am Main der Weg in den Tod begann. Die bislang bekannte Planung für die Gedenkstatte lässt einen Ort vermuten, den niemand ohne Bewegung, ja Erschütterung erleben und verlassen wird. Die Voraussetzung dafür ist jedoch der freiwillige, bewusste Besuch der Gedenkstätte. Es sind allerdings durchaus Zweifel angebracht, ob der eher abgelegene Ort weitab von der Stadtmitte großen Zustrom von Besuchern haben wird. Die Stadtverordneten der FREIEN WÄHLER werden nicht deshalb der Bau- und Finanzierungsvorlage zustimmen, weil sie glauben, dieser Zustrom sei wahrscheinlich. Sie stimmen zu, um den Opfern Respekt zu erweisen und Erinnerung zu ermöglichen.
Die FREIEN WÄHLER in Frankfurt stimmen hingegen nicht zu, eine Gedenkstätte zu errichten, zu deren Besuch Menschen verpflichtet werden. Am leichtesten lassen bekanntlich sich Schulklassen und Jugendgruppen aller Art dazu bewegen, Gedenkstätten aufzusuchen. Das Ergebnis ist zwar oft genug fragwürdig, doch ist es grundsätzlich nicht falsch, junge Menschen mit den positiven wie negativen Zeugnissen der Vergangenheit zu konfrontieren. In Einwanderungsstädten wie Frankfurt gibt es allerdings ein immer größer werdendes Problem mit der Erinnerungskultur, dem von offizieller Seite nach wie vor teils ängstlich, teils ignorant ausgewichen wird: Warum sollen sich junge Menschen mit türkischer, arabischer, afrikanischer, asiatischer, osteuropäischer Herkunft oder gar Kinder von jüdischen Eltern aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion betroffen von Orten zeigen, an denen Verbrechen im Namen des deutschen Volkes und leider auch mit stillschweigender Zustimmung von Teilen dieses Volkes stattfanden?
Diese jungen Menschen bilden aber in den meisten Schulen der Stadt inzwischen die Mehrheit. Wenn schon die derzeit lebenden Deutschen deutscher Herkunft zur Erinnerung nur gemahnt, aber nicht verpflichtet werden können – wie soll das bei den Nachkömmlingen von Einwanderern aus aller Welt funktionieren? Es ist sogar zu befürchten, dass mit jedem Pflichtbesuch einer Gedenkstätte der Schande des Nationalsozialismus eine gerade unter Einwanderern aus dem islamisch-orientalischen Kulturkreis grassierende Deutschenfeindlichkeit und Deutschenverachtung gefördert wird, wenngleich sicher unwillentlich. Denn wirklich betroffen von einer Gedenkstätte wie der in der EZB können nun einmal nur die direkten Nachkommen jener Generationen von Deutschen sein, die in den Jahren 1933 bis 1945 erwachsen waren oder wurden.
Diese Nachkommen sind in Frankfurt wie auch anderswo jedoch eine immer kleiner werdende Minderheit. Sollen diese nun die ganze Folgelast aus der Nazi-Vergangenheit alleine tragen? Der Kölner Entwicklungspsychologe Prof. Dr. Ulrich Schmidt-Denter zieht aus seiner Studie „Die Deutschen und ihre Migranten – Ergebnisse der europäischen Identitätsstudie“ beunruhigende Schlüsse: „Bei den deutschen Jugendlichen ist das Thema Nummer Eins die gefühlte Beeinträchtigung der nationalen Identität, die mit der ‚Holocaust Education‘, das heißt dem Geschichtsunterricht über das Dritte Reich und den Holocaust, in Verbindung gebracht wird.“
Prof. Schmidt-Denter stellt weiter fest: „Bei dem ohnehin im internationalen Vergleich schwach ausgeprägten Nationalstolz der deutschen Jugendlichen findet sich noch mal ein Knick nach unten im Alter von 15 Jahren – und das ist genau das Alter, in dem dieses Thema im Geschichtsunterricht besonders intensiv behandelt wird. Dieser „Identitätsknick“ ist nur für Deutschland typisch. Die ‚Holocaust Education‘ wirkt also nicht in allen Ländern gleich“.
Und sie wird auch nicht gleichermaßen wirken in einer Schülerschaft mit überwiegend nichtdeutscher Herkunft. Darüber machen sich aber weder die politisch noch pädagogisch Verantwortlichen bislang viele Gedanken, wahrscheinlich sogar überhaupt keine Gedanken. Sie haben bislang nicht begriffen, dass gerade eine von massiver Einwanderung geprägte Gesellschaft wie die in der Großstadt Frankfurt unbedingt positive Angebote und Selbstbilder braucht. Prof. Schmidt-Denter: „Die Art, wie Deutsche mit Patriotismus umgehen, macht für die deutschen Jugendlichen die Entwicklung einer sozialen Identität schwieriger. Wir haben ja nicht ohne Grund speziell Jugendliche untersucht. Sie befinden sich nach entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten in der Altersphase, in der sich die Identität formt. Wir haben dabei gesehen, dass viele Jugendliche darunter leiden, dass sie so eine unattraktive Identität zugeschoben bekommen. Sie würden lieber eine andere Nationalität haben.“
Das hat Folgen, die der Hochschullehrer so beschreibt: „Wir haben die Frage gestellt: Wenn es die Möglichkeiten einer ‚Wiedergeburt‘ gäbe – möchten Sie das wieder Deutsche/r sein oder lieber etwas anderes. Da sagen rund 70 Prozent, sie würden lieber als jemand anderes geboren werden. Von den jugendlichen Migranten möchten 84 Prozent nicht als Deutsche geboren werden.“
Die geradezu erschütternden Ergebnisse der Kölner Studie lassen zwei Schlüsse zu: Erstens gibt es ein zu schwaches, in Krisen potentiell gefährlich schwaches Selbstwertgefühl der Deutschen. Zweitens sind die Voraussetzungen für erfolgreiche Integration umso schlechter, je weniger gebürtige Deutsche über ein positives Selbstwertgefühl verfügen. Denn wer mag sich schon gern in ein völlig verunsichertes Volk integrieren?
Was aber im konkreten Zusammenhang mit der neuen Frankfurter Gedenkstätte nicht weniger wichtig ist: Erzwungene Erinnerung – und sei diese mit den besten Absichten erzwungen -, führt nicht zu mehr Erinnerungswillen, sondern nur zu noch mehr Identitätsschwäche. Es bedarf keines Psychologiestudiums um zu wissen, wie schnell das bei Individuen oder Kollektiven in Aggression umschlagen kann.
Wer zur Erinnerung verpflichtet wird, könnte nicht nur den hassen, der das verlangt, sondern auch jene, um derentwillen er sich erinnern soll. Gedenkstätten wie die in der EZB sind Orte, die den Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen gewidmet sind. Es sind aber keine Orte der Erinnerungspflicht, sondern des Erinnerungswillens. Auch darüber muss bei der Verabschiedung der Vorlage des Magistrats geredet werden.
Wolfgang Hübner, 26. November 2012