Niedersachsen und die FREIEN WÄHLER
Ein Diskussionsbeitrag nach der Wahl
Das Ergebnis der Landtagswahlen in Niedersachsen hat im Jahr der Bundestagswahlen selbstverständlich Signalwirkung für alle Parteien, auch für die FREIEN WÄHLER (FW), deren neugebildete Partei (Bundesvereinigung) sich erstmals mit einem Programm und Kandidatenlisten für den Bundestag bewerben will. Die in Niedersachsen erzielten 1,1 Prozent sowohl bei den Erst- wie bei den Zweitstimmen vermitteln allerdings keinerlei Hoffnung auf ein erfolgreiches Abschneiden bei der Bundestagswahl im September. Bei diesem Wahlergebnis von „Aufbruchstimmung“ zu reden, wie es der FW-Bundesvorsitzende tut, zeugt entweder von bedrohlichem Realitätsverlust oder der von Politikern der etablierten Parteien nachgeahmten Schönrednerei von Misserfolgen.
Denn weder haben die FW in Niedersachsen von dem schlechten Abschneiden der nun entzauberten Piraten sowie der anderen kleinen und kleinsten Parteien profitieren können, noch konnten sie aus der riesigen Masse der Nichtwähler bzw. Nichtmehrwähler Zuspruch in nennenswerter Zahl für sich gewinnen. Zwar konnte das Ergebnis gegenüber der Landtagswahl 2008 bei den Erststimmen um 0,2 und bei den Zweitstimmen um 0,6 Prozent verbessert werden. Doch das sind Steigerungen, die völlig im Bereich der vorhandenen Möglichkeiten vieler in Städten, Gemeinden und Kreisen bereits langjährig tätigen freien Wählergruppen liegen. Die fast gleiche Zahl von Erst- und Zweitwählern zeigt auch deutlich, dass den FW nur in ganz wenigen Fällen das gelungen ist, was der FDP so unerwartet reiche Ernte eingebracht hat. Offenbar haben im Gegensatz zu 2008 nun wesentlich mehr FW-Wähler nicht nur die Erst-, sondern auch die letztlich viel wichtigere Zweitstimme der FW-Liste gegeben. Das ist ein gewisser Fortschritt in Niedersachsen, berechtigt aber in keiner Weise, das als positives Vorzeichen für die Bundestagswahl zu werten.
Denn dazu hätte es eines echten Signals bedurft, zumindest aber eines besseren Resultats als das der Piraten, die an Attraktivität als Alternative zu den etablierten Kräften massiv verloren haben. Dieses Signal wurde zudem trotz der Unterstützung der Wahlalternative 2013 (WA2013) samt deren prominenter Köpfe verfehlt, auch das muss bei der Wertung des FW-Abschneidens in Niedersachsen in Rechnung gestellt werden. Welche Folgen das für die Strategie der WA2013 hat, wird sich bald herausstellen. Es gab einige Anzeichen bereits im Vorfeld der Wahl, dass die beabsichtigte Kooperation wackelt. Diese Kooperation dürfte nach der Wahl nicht haltbarer geworden sein. Was aber am bedenklichsten ist: Die FW in Niedersachsen hat erstmals auf ein objektiv sehr wählerwirksames Alleinstellungsmerkmal gesetzt, nämlich die Kritik an der Euro-Rettungspolitik und ihre Folgen – doch ohne die erhoffte und im Hinblick auf die Bundestagswahl unbedingt notwendige Resonanz.
Das Wahlergebnis der FW in Niedersachsen hat zwar ganz gewiss nicht für „Aufbruchstimmung“ gesorgt, doch seinen Teil dazu beigetragen, dass mit hauchdünner Mehrheit das große Flächenland nun von Rot-Grün regiert wird. Das ist den sich bürgerlich verstehenden FW nicht anzulasten, denn zu einem Verzicht auf die Wahlbeteiligung zum Vorteil von CDU und FDP gab es keinen Anlass. Doch sowohl für die Bundestagswahl wie für die gleichzeitig stattfindende Landtagswahl in Hessen gilt nun die Frage: Wollen, können, dürfen es die FREIEN WÄHLER verantworten, dass infolge ihrer Wahlbeteiligung rot-grüne, also nichtbürgerliche Koalitionen profitieren? Denn sowohl im Bund wie in Hessen wird es aus heutiger Sicht ganz knappe Entscheidungen entweder zugunsten von Schwarz-Gelb oder Rot-Grün geben.
Die FW müssen sich dieser Frage stellen. Und sie müssen dabei von der Tatsache ausgehen, auf keinen Fall im Bund wie in Hessen auch nur annähernd die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. Für politische Kräfte, die in fundamentalem Gegensatz zu dem etablierten Parteienblock stehen oder sich wenigstens so verstehen, ist das kein Problem, auch nicht für Themenparteien wie zum Beispiel die Tierschutzpartei.
Doch wer sich wie die FW „nur“ als bürgerliche Alternative versteht, muss das Risiko bedenken und begründen, nicht eventuell, sondern sogar sehr wahrscheinlich zum unfreiwilligen Helfer der nichtbürgerlichen Parteien zu werden. Das Programm der FW-Bundesvereinigung lässt mit Ausnahme der Kritik an der Euro-Rettungspolitik jedoch keine rechte Legitimationsgrundlage für die Verantwortung erkennen, dieses Risiko einzugehen. Dazu bedürfte es zum Beispiel bei Themen wie Integration, Islam, Finanz- und Sozialpolitik wesentlich profilierterer Positionen, die aber bei der real existierenden Heterogenität der FW nicht machbar sein dürften.
Die FW-Bundesvereinigung, der Bundesvorstand sowie sämtliche Mitglieder müssen ab sofort in demokratischer Offenheit darüber diskutieren und beraten, welche Schlussfolgerungen aus dem Ergebnis von Niedersachsen für die Bundestagswahl und auch die Landtagswahl in Hessen gezogen werden sollten. Durchhalteparolen und Schönrednerei helfen ganz gewiss nicht weiter. Das Wahlziel in Niedersachsen war der Einzug in den Landtag von Hannover als positives Signal für die Bundestagswahl. Wenn dieses Ziel so weit verfehlt wird, wie das am Sonntag geschehen ist, muss darüber nicht nur geredet werden, es müssen auch politische und personelle, vielleicht auch organisatorische Konsequenzen gezogen werden.
Wolfgang Hübner, 22. Januar 2012