„Claudia ist hier. Und Du?“
Über eine Begegnung der unheimlichen Art

Wahlkampf kann so grausam sein! Ich übertreibe? Keineswegs. Ich kann Ihnen sagen, warum das so ist: Wohlgemut verlasse ich heute Wohnung und Haus in Frankfurts Innenstadt, die Sonne scheint, es ist warm und der beginnende Spätsommer ließe sich wunderbar genießen. Doch kaum habe ich ein paar Schritte getan - ein jäher Schreck! Denn ich blicke auf ein Wahlplakat, auf dem mir ein dralles Dampfnudelgesicht, vermutlich weiblichen Geschlechts, entgegen, naja, lacht.
Da setzt man sich seit vielen Jahren unablässig für Stadtreparatur und Stadtverschönerung ein – und nun dort vor mir, dieses dralle Dampfnudelgesicht! Nervös sondiert mein Blick, ob ich wirklich vorbei muss an diesem Plakat, aber es gibt einfach keine andere Möglichkeit. Also nähere ich mich mit plötzlichem Welt- und Wahlkekel dem nur allzu bekannten Dampfnudelgesicht und erlebe den nächsten Schreck: Unter dem Kopf steht: „Claudia ist hier.“! Die ist hier? Nicht in ihrer geliebten Türkei? Nicht in der Talkshow? Die ist wirklich hier? Die könnte tatsächlich jeden Moment hier auftauchen, mir leibhaftig gegenüberstehen, ja mich ansprechen, umwerben, mich gar umarmen? Hirn, Herz und auch der ganze Rest von mir signalisieren: Höchste Gefahr! Jetzt bleibt eigentlich nur die schnelle Flucht – irgendwohin, nur weg von Claudia!
Doch da steht ja noch was: „Claudia ist hier. Und Du?“ Verzweifelt überlege ich, wann, wo und unter welchen dubiosen Umständen ich mit dem Dampfnudelgesicht zum DU gekommen bin. War ich betrunken, betäubt, besinnungslos, im Drogenrausch – ich kann mich nicht erinnern! Aber es kann ja andererseits auch nicht sein, dass Claudia oder ihre Freunde einfach DU zu mir sagen. Eigentlich müssten die doch wissen, wie sehr ich ein SIE bei diesem Dampfnudelgesicht noch als Zumutung empfände. Ich erkenne zunehmend verzagt: Claudia ausweichen, das geht nicht. Denn wir sind durch ein – wie auch immer entstandenes DU – verbunden, ich und Claudia, Claudia und ich, wir beide.
Wie gelähmt, zumindest völlig erlahmt stehe ich nun ganz dicht vor dem Plakat. Beobachtet mich schon jemand? Claudias Dampfnudelgesicht und meines, inzwischen sicher von Furcht und Hilflosigkeit gezeichnet, sind sich ganz nahe. Je länger ich dieses Gesicht aus nächster Nähe betrachte, desto mehr Panik steigt in mir auf: Selbst wenn ich jetzt endlich meinen Weg fortsetze – wird mich das Dampfnudelgesicht und die Frage „Claudia ist hier. Und Du?“ nicht an vielen Ecken meiner Stadt bedrängen? Ich blicke umher: Überall Plakate, folglich lauert überall Claudia - überall will sie wissen, ob ich auch hier bin. Schrecklich!
Ich verliere jegliche Lust, meinen geplanten Weg fortzusetzen. Mit fast übermenschlicher Anstrengung wende ich meinen Blick vom Plakat ab, kehre meiner Duz-Claudia den Rücken und eile mit immer schnelleren Schritten zurück in mein Haus, rette mich in die Wohnung. Jetzt will ich nur noch hoffen, dass unsere Lebensmittelvorräte bis zum 22. September reichen. Denn vorher werde ich meiner Gesundheit weitere Begegnungen dieser unheimlichen Art nicht mehr zumuten können.
Aber es bleibt natürlich die Angst vor Claudias Gegenwart, schließlich ist sie „hier“. Was ist, wenn Sie mich sucht, wen sie mich gar findet? Ich schließe die Wohnungstür doppelt zu, verriegle mit der Stahlkette. Den Fernsehapparat setze ich auch außer Betrieb, sicher ist sicher. In letzter Not könnte ich noch in dem alten Luftschutzkeller Zuflucht finden. Doch ob ich so Claudia entkomme? Demnächst mehr darüber – natürlich nur, wenn mich das Dampfnudelgesicht nicht aufspürt. Halten Sie mir beide Daumen - bitte!
Hilferuf von Wolfgang Hübner