Die moralische Supermacht und das leidige Geldproblem
Kommt Gauck nicht nach Sotschi, kommen Tschetschenen zu uns

Deutschland ist militärisch geschrumpft, kulturell hochsubventioniert, wirtschaftlich eine Großmacht, jedoch moralisch eine immer stolzer werdende Supermacht. So stolz, dass der Bundespräsident nicht nur unter dem Beifall der Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth seinen bewussten Verzicht auf den Besuch der Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi verkündet. Zwar hat die Moralisierung der Politik in aller Regel ebenso verborgene wie verlogene Motive und geht nebenbei selten gut, aber bei einem gewissen verwöhnt-sattem Publikum im eigenen Land lässt sich damit durchaus Eindruck schinden. Klar sollte aber auch der Preis sein, den irgendwann die moralische Supermacht Deutschland nach außen wie nach innen wird zahlen müssen und tatsächlich ja auch schon bezahlt.
Denn Russlands Präsident Putin wird die Abwesenheit des Bundespräsidenten schon deshalb gut ertragen können, weil er weiß, dass in seinem riesigen Land die ganz besonders problematische Volksgruppe der Tschetschenen inzwischen auf dem Abmarsch ins deutsche Asyl ist. Was könnte Putin Besseres passieren, als die konkrete Aussicht auf die unblutige Lösung eines Konflikts, der bislang unlösbar erschien? Doch nicht nur Tschetschenien kann mittels der moralischen Supermacht Deutschland endlich befriedet werden, auch Syrien, Somalia, Eritrea und Afghanistan vermag hierzulande endlich entscheidend geholfen werden – es muss nur ein wenig zusammengerückt werden zwischen Flensburg und Konstanz. Und es gibt kaum einen Zweifel, dass vor allem diejenigen, die dem Bundespräsidenten jetzt Beifall spenden für seinen Mut, Putin die Stirn zu bieten, in ihren Häusern und Wohnungen nun ganz schnell ein oder auch mehr Zimmer frei machen werden für Asylsuchende aus aller Welt – oder ist das doch nicht so selbstverständlich?
Ist es doch nicht so selbstverständlich, dass evangelische Kirchenpräsidenten, Caritas-Funktionäre, Asyl-Anwälte, Grünen-PolitikerInnen, Humanität anmahnende Leitartikler und Gutmenschen aller Couleur bereit sind, frierenden Romasippen eine warme, komfortable Winterunterkunft zu gewähren? Offensichtlich ist es tatsächlich keineswegs selbstverständlich, denn sonst würden die Kommunen in Hessen (und nicht nur dort!) ein immer lauteres Klagelied von den explodierenden Kosten und Nöten ob des anwachsenden Flüchtlingsstroms anstimmen. Derweil in vielen Bereichen die Infrastruktur verkommt, öffentliche Leistungen für die Bürger verteuert und notwendige Investitionen verschoben oder gar gestrichen werden, muss immer mehr Geld für die Unterbringung und Verpflegung von Tschetschenen, Syrern, Afghanen sowie Zigeunern aus Rumänien und Bulgarien aufgewendet werden.
“Humanität ist das oberste Gebot“, so die Überschrift eines Kommentars zu dem Thema in der heutigen Ausgabe einer Frankfurter Zeitung. Humanität muss allerdings praktiziert und auch finanziert werden. Da aber offensichtlich die praktizierte Humanität all der professionellen und ideellen Gutmenschen in Hessen noch nicht einmal annähernd ausreicht, dem Flüchtlingsstrom „einen menschenwürdigen Aufenthalt ohne gesundheitliche Beeinträchtigung“ zu gewährleisten, die Kommunen dafür aber nicht genug Geld haben oder zur Verfügung stellen wollen, wird jetzt laut nach finanzieller Unterstützung von Land und Bund gerufen, natürlich mit besonderer Laustärke von der prosperierenden, doch nimmersatten Sozialindustrie, die Millionen neue Kunden wittert.
Wer so viel Humanität im Herzen trägt, dem ist es herzlich egal, dass weder das Land Hessen noch der Bund ohne weitere Schuldenmacherei oder Abstriche am Sozialstaat für die eigene Bevölkerung die Mittel aufbringen können, um die geforderte „Humanität“ auch bezahlen zu können. Und auch die vom Bundespräsidenten eingesparten Reisekosten nach Sotschi und zurück werden wohl nicht ausreichen, um die Kommunen nennenswert zu entlasten. Doch wer seinen weltweiten Rang als moralische Supermacht behaupten will, wird schon einen Weg finden, um die Probleme zu lösen.
Warum also keine Sonderabgabe „Geld für die Welt“ für alle Steuerpflichtigen? Warum nicht schon bald eine Wohnraumzwangsbewirtschaftung für alle, die mehr als zwei Zimmer zur Verfügung haben? Es gibt noch unendlich viel zu tun für eine Willkommenskultur, die einer moralischen Supermacht angemessen, ja für diese geradezu zwingend ist. Es sage auch keiner, dass Deutschland mit über 80 Millionen Bewohnern schon überbevölkert sei – in Mittel- und Nordhessen beispielsweise ist jede Menge Platz für alle Tschetschenen und etliche Afghanen noch dazu. Und Hunderttausende Romas lassen sich problemlos in der minderbesiedelten Rhön unterbringen – es muss nur der entsprechende humanitäre und politische Willen dafür entwickelt werden. Das aber dürfte ausgerechnet der moralischen Supermacht Deutschland gar nicht schwer fallen – oder?
Ja, das ist ein zorniger Kommentar zu einem Problem, zu dem die derzeit politisch Verantwortlichen und Leitartikler nur hilflose oder heuchlerische Aussagen machen können oder wollen. Und um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Der Verfasser macht denjenigen keinerlei Vorwurf, die aus ihrem Elend in Tschetschenien, Afghanistan oder auch Bulgarien und Rumänien Zuflucht im „reichen“ Deutschland suchen – warum sollten sie es nicht tun, wenn ihnen Gelegenheit dazu gegeben wird?
Der Vorwurf richtet sich vielmehr einzig und allein gegen all jene, die in Hessen und Deutschland an dem importierten Elend der Welt in irgendeiner Weise profitieren und noch immer mehr profitieren wollen. Der Vorwurf richtet sich gegen alle jene politisch Verantwortlichen, die bewusst verschweigen, dass die selbstgewollte Verpflichtung zur „Humanität“ Deutschland mit finanziellen, sozialen und gesellschaftspolitischen Problemen belastet, deren Lösung in unverantwortlicher Weise in die Zukunft geschoben wird. Und der Vorwurf richtet sich ganz besonders an all jene, die mit ebenso wohl- wie hohlklingenden Phrasen keinen Versuch unterlassen, die moralische Supermacht auch noch auf den Weg zur moralischen Hypermacht zu zwingen. Dafür können schließlich Honorar, Gehälter oder Diäten einkassiert werden - den Rest sollen gefälligst die anderen bezahlen: „Humanität“ ist nun mal nicht kostenlos, wenn sie vorrangig auf Staatskosten praktiziert wird. Und darin ist Deutschland wirklich weltweit unschlagbar!
Wolfgang Hübner, 10. Dezember 2013