Das ernsthafte Anliegen „Inklusion“ wird politisch missbraucht
Erkenntnisse aus einer politischen Debatte

Der folgende Text zum Thema Inklusion ist das Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem Thema auf der Frankfurter Stadtverordnetensitzung vom 30. Januar 2014. Es geht hierbei aber keineswegs um ein lokales, sondern um ein deutschlandweites, ideologisch hochaufgeladenes und politisch brisantes Thema. Deswegen stelle ich diesen Text zur Diskussion und hoffe auf rege Beteiligung.
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Die möglichst weitgehende Integration behinderter Menschen in die Lebenswelt der nichtbehinderten Mehrheit ist ein zivilisatorischer Fortschritt, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Das gilt in besonderer Weise in Deutschland, wo in den Jahren der Nazi-Diktatur unzählige Behinderte ermordet wurden. Auch deshalb verfügt unser Land über viele vorbildliche Bildungs-, Arbeits- und Lebenseinrichtungen für Menschen, die von dem schwierigen oder schweren Schicksal betroffen sind, in irgendeiner Weise behindert zu sein.
Wo es für den einzelnen Behinderten möglich ist und wo alle Voraussetzungen dafür vorhanden sind oder geschaffen werden, können behinderte Kinder und Jugendliche auch in die Regelschulen integriert werden. Das Schlüsselwort dafür ist Inklusion. Der Begriff leitet sich vom lateinischen Verb includere (=beinhalten, einschließen, einsperren, umzingeln) ab. Laut Wikipedia ist „inklusive Pädagogik ein pädagogischer Ansatz, dessen wesentliches Prinzip die Wertschätzung und Anerkennung von Diversität (=Vielfalt) in Bildung und Erziehung ist.“
Spielball ideologisch-politischer Zwecke und Ziele
Den Frankfurter Stadtverordneten lag bei der Sitzung am 30. Januar 2014 eine von der CDU/Grünen-Koalition im Römer formulierte Vorlage des Magistrats (M 6) vor, die Frankfurt zu einer Modellregion in Hessen für eine möglichst weitgehende Inklusion behinderter Schüler machen soll. Die Vorlage wurde mehrheitlich angenommen. Die Fraktion der Freien Wähler jedoch stimmte dagegen und sieht sich durch den Verlauf der Diskussion der Magistratsvorlage in diesem Votum vollauf bestätigt.
Erneut wurde nämlich deutlich, dass ein wichtiges und ernstes Anliegen wie Inklusion zum Spielball ideologisch-politischer Zwecke und Ziele gemacht werden soll. Es war daher alles andere als zufällig, dass es die Fraktion der Grünen war, die das Thema zur Debatte anmeldete. Damit beabsichtigten die Grünen zum einen, von der nicht enden wollenden Kritik an der grünen Bildungsdezernentin Sorge abzulenken. Zum anderen wollen die Grünen das Thema Inklusion dazu nutzen, sich einmal mehr als die moralisch besseren Menschen und Politiker zu profilieren.
Denn wer Einwände gegen die grüne Inklusionsstrategie erhebt, der wird nach bewährter Methode ganz schnell der Behindertenfeindschaft geziehen, zudem, so der Vorwurf, wolle er sich internationalen Verpflichtungen Deutschlands entziehen. Sowohl der Koalitionspartner CDU wie auch die oppositionelle SPD haben sich diesem Druck gebeugt. Offenbar will von diesen Parteien niemand unter Verdacht geraten, als nicht maximal behindertenfreundlich zu gelten.
Die Freien Wähler haben aus guten Gründen die Auseinandersetzung nicht gescheut und schon in der Debatte aufgedeckt, dass die Inklusion politisch missbraucht wird – zum Schaden der Kinder und Jugendlichen, die unmittelbar betroffen sind. Aber auch zum Schaden aller, die in der schulischen Praxis die Folgen ausbaden müssen. In der Debatte der Stadtverordneten wurde die Argumentation derjenigen erkennbar, die Inklusion für ihre politischen Zwecke und Ziele instrumentalisieren wollen.
Hier nun die drei wesentlichsten Argumente, mit denen die Instrumentalisierung betrieben wird, sowie die aus Sicht der Freien Wähler jeweils fällige Richtigstellung bzw. Aufdeckung der tatsächlichen Absichten und Motive:
1. Argument:
- Es gibt die zwingende Verpflichtung zur Umsetzung einer UN-Konvention in die schulische Praxis
Richtigstellung:
In Artikel 4, Abs. 4 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) heißt es: „Dieses Übereinkommen lässt zur Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen besser geeignete Bestimmungen, die im Recht eines Vertragsstaats oder in dem für diesen Staat geltenden Völkerrecht enthalten sind, unberührt.“
In Artikel 5, Abs. 4 ist zu lesen: „Besondere Maßnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, gelten nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens.“
Nirgendwo in der auch von Deutschland unterschriebenen UN-Konvention wird den Staaten konkret vorgeschrieben, wie sie die Rechte und die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen haben. Erst recht wird Deutschland mit keinem Wort vorgeschrieben, das bewährte System der Förderschulen einzuschränken oder gar abzuschaffen. Vielmehr wird die UN-Konvention von interessierten Kreisen willkürlich so interpretiert, wie es diesen in das eigene Weltbild passt.
2. Argument
- Zwischen Inklusion und Förderschulen wird es weiterhin Wahlfreiheit geben
Richtigstellung:
Einige Verfechter dieser Aussage mögen das ehrlich so meinen und wollen. Realistisch ist das aber nicht. Denn diese Lösung, wenn sie denn ernsthaft im Sinne der betroffenen Kinder und Eltern betrieben werden soll, ist nicht nur finanziell uneinlösbar, sondern wird meist mit der Absicht in die Diskussion gebracht, um den Weg in die totale Inklusion zu verschleiern. Den Eltern behinderter Kinder und Jugendlicher soll suggeriert werden, ihnen bleibe die Wahlfreiheit erhalten, die Ängste in den Förderschulen vor deren schrittweiser Auflösung sollen verscheucht werden.
Da aber nach allen vorliegenden Informationen keine zusätzlichen Gelder für Inklusion an Regelschulen aufgewendet, sondern die Finanzierung von Inklusion durch Einsparungen bei Förderschulen erzielt werden soll, ist es nur folgerichtig, dass weitgehende Inklusion auf Kosten des in Deutschland und auch in Frankfurt gut funktionierenden, praktisch bewährten Sonder- und Förderschulsystems erreicht werden kann und muss.
Auf die Frage der FW-Fraktion in der Sitzung der Stadtverordneten am 30. Januar 2014: „Welche Förderschulen sollen – insofern Planungen zur Schließung von Förderschulen vorliegen – geschlossen werden?“ hat die grüne Bildungsdezernentin Sorge geantwortet: „Um Modellregion für inklusive Schulentwicklung zu werden, sind sonderpädagogische Personalressourcen zugunsten des inklusiven Unterrichts in die allgemeine Schule zu lenken. Dies bedeutet, dass stationäre Förderschulsysteme nach und nach umzuwandeln sind.“
Diese Antwort lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und in der Magistratsvorlage M 6 heißt es: „Ab dem Schuljahr 2015/16 werden stationäre Systeme im Förderschwerpunkt Lernen sukzessive umgewandelt, d.h. es werden möglichst keine neuen Schülerinnen und Schüler in diesen Fördersystemen mehr aufgenommen.“ Mit anderen Worten: Die Förderschulen sollen systematisch – nämlich mittels ausbleibendem Schülernachwuchs - in eine Situation getrieben werden, die ihre Schließungen rechtfertigen. Das ist eine zynische Kalkulation.
3. Argument
- Eltern behinderter Kinder verlangen Inklusion
Richtigstellung:
Es ist nur zu verständlich, wenn Eltern behinderter Kinder diese so wenig wie möglich ausgegrenzt vom ‚normalen‘ Leben sehen wollen. Deshalb übt das Projekt Inklusion eine große, gut nachvollziehbare Attraktivität auf viele betroffenen Eltern aus. Elternwillen und Elternwünsche sind so weit wie möglich zu respektieren. Aber die Eltern von behinderten Kindern haben diesen gegenüber auch eine besondere Verantwortung, nämlich einen Bildungsweg zu wählen, der die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen eines Kindes beachtet, nicht aber – wenngleich aus den besten Motiven – überschätzt.
Deswegen müssen an denjenigen Regelschulen, die künftig Inklusion anbieten sollen, pädagogisch, organisatorisch, räumlich und technisch alle Voraussetzungen gegeben sein, um Inklusion erfolgreich zu gestalten. Doch selbst wenn alle diese Voraussetzungen gegeben sein sollten: In sehr vielen Fällen ist die aktive Mitarbeit der Eltern oder zumindest eines Elternteils am Inklusionserfolg unerlässlich. Wer aus politischen Gründen den Eindruck erweckt, Eltern könnten ihre behinderten Kinder bei Regelschulen mit Inklusionsangeboten mit dem gleichen geringen persönlichen Einsatz abgeben wie das Eltern nichtbehinderter Kinder in nicht wenigen Fällen tun, nährt in bedenklicher Weise Illusionen und programmierte massive Enttäuschungen auf allen Seiten.
Deshalb müssen die Eltern behinderter Kinder ebenso eingehend über die realen Herausforderungen inklusiven Unterrichts informiert werden wie über die Möglichkeiten von Förderschulen. Erst dann können die betroffenen Eltern mit ihren Kindern eine verantwortliche Entscheidung fällen – und nur dann! Wer jedoch, wie in der Vorlage des Magistrats dokumentiert, die Förderschulen zum Auslaufmodell machen will, der möchte die Entscheidung der Eltern, den vielbeschworenen Elternwillen, faktisch ebenso abschaffen wie die Wahlfreiheit.
Zusammenfassend lassen sich folgende Aussagen machen:
- Es gibt keinerlei Berechtigung, die Verpflichtung zur Realisierung der UN-Konvention für den Abbau oder gar die Auflösung von Förder- und Sonderschulen zu nutzen.
- Eine mittel- und langfristige Parallelexistenz von weitgehender Inklusion an Regelschulen einerseits und des gut ausgebauten Netzes von Förder- und Sonderschulen andererseits ist finanziell unrealistisch und von den Inklusion-Ideologen ausdrücklich nicht beabsichtigt.
- Der zu respektierende Elternwillen muss zugunsten der behinderten Kinder und Jugendlichen in jedem Einzelfall mit der Verantwortung und Pflichten der Eltern sowie den Möglichkeiten und Grenzen der Schüler in Einklang gebracht werden.
- Inklusion kann lediglich dort erfolgreich sein, wo alle Voraussetzungen in den Regelschulen gegeben sind bzw. geschaffen werden. Diese Voraussetzungen können nur mit erheblichem pädagogischem und finanziellem Aufwand gewährleistet werden.
- Wo für Inklusion an Regelschulen diese Voraussetzungen fehlen bzw. unzureichend sind, wird die erfolgreiche Entwicklung behinderter Schüler ebenso gefährdet wie diejenige nichtbehinderter Schüler.
- Der Abbau oder gar die Auflösung von Förderschulen ist dann eine ideologisch verbrämte Sparmaßnahme, wenn die Voraussetzungen von Inklusion an Regelschulen nicht maximal gegeben sind bzw. geschaffen werden.
- Wenn diese Voraussetzungen vorhanden sind, kann und soll mit den dafür geeigneten behinderten Schülern Inklusion stattfinden
- Förder- und Sonderschulen sind im Interesse behinderter Kinder und Jugendlicher ein ebenso bewährter wie bewahrenswerter Zweig des deutschen Bildungssystems. Dieser darf nicht für ideologisch und/oder finanziell motivierte Menschenexperimente auf Spiel gesetzt werden.
Aktueller Nachtrag:
Zum Schluss noch ein aufschlussreicher Blick in die politische Wirklichkeit:
In ihrer Ausgabe vom 8. Februar 2014 berichtet die FAZ: „Das Land Nordrhein-Westfalen muss für die Zusatzkosten aufkommen, die den Kommunen durch den gemeinsamen Schulunterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern (Inklusion) entstehen.“ Wie die Zeitung weiter berichtet, ist diese Feststellung das Ergebnis eines Gutachtens, das die nordrhein-westfälische Landesregierung selbst in Auftrag gegeben hatte. Demnach müssen in den kommenden vier Jahren die (vielfach völlig überschuldeten) Kommunen 100 Millionen Euro zusätzlich für die Inklusion aufwenden.
Doch die (gleichfalls völlig überschuldete) Landesregierung bestreitet bislang, für die Finanzierung zuständig zu sein: „Bei der Inklusion handele es sich nicht um eine neue, vom Land verordnete Aufgabe, sondern um einen von den Vereinten Nationen geforderten langfristigen Prozess.“ Nun droht eine Klagewelle der Kommunen gegen das Land, denn das Gutachten bestätig die Befürchtungen der Kommunen im Hinblick auf den Finanzbedarf für die Inklusion. Die derzeitige Regierung von Nordrhein-Westfalen bilden übrigens SPD und Grüne…
Wolfgang Hübner