Gedanken beim Anblick der Moskauer Feiern am 9. Mai
Die Gesichter der Vergangenheit sind unsere Herkunft

Wer sich in unseren Medien über den Ablauf der russischen Feiern
anlässlich des 70. Jahrestages des Sieges über Nazi-Deutschland in
Moskau informierte, hat in der Regel von der großen Militärparade, einer
Putin-Rede und der demonstrativen Abwesenheit etlicher Staats- und
Regierungschefs aus dem Westen erfahren. In ganz wenigen dieser Berichte
wurde nebenbei auch die überwältigende Beteiligung der Bevölkerung
jener Stadt erwähnt, die 1941 beinahe von der Wehrmacht erobert worden
wäre. Doch nur, wer die Übertragung der Moskauer Feierlichkeiten im
russischen Fernsehen mitverfolgen konnte, vermag wirklich zu begreifen,
dass da keineswegs eine abgekartete gigantische Propagandaschau
postsowjetischen Stils inszeniert wurde, sondern das Fest eines Volkes,
das mit Stolz und Trauer auf einen mit über 20 Millionen Opfern bitter
errungenen Sieg zurück blickt und sich an diesem Tag der eigenen
Geschichte und Herkunft vergewissert.
Was mich beeindruckte,
waren gewiss nicht die Bilder zackig marschierender Soldaten, nicht die
präsentierten modernsten Raketen und Panzer, auch nicht die
spektakulären Aufnahmen der über den Roten Platz donnernden
Kampfflugzeuge. Vielmehr bewirkten das die fröhlich und offensichtlich
freiwillig über den Platz ziehenden Massen von Frauen, Männern und
Kindern aller Altersstufen. Da ich weder russisch spreche noch verstehe,
konnte ich mich unbeeinflusst von den Kommentaren der Reporter vor Ort
oder den Aussagen der vielen interviewten Teilnehmer des Volksaufmarschs
vollständig auf die Bilder in Moskau konzentrieren. Fast alle diese
Menschen, ob Mann oder Frau, ob Greis oder Kind, führten Fotos jener
Familienmitglieder mit, die im Krieg gegen die Deutschen gefallen sind,
als Gefangene starben oder mit Orden belohnt überlebt hatten. Es waren
bis auf wenige Ausnahmen Fotos von Menschen, die nicht mehr leben, aber
an diesem Tag von ihren Nachfahren wieder verlebendigt wurden.
Es
gibt keine sympathischere Erinnerung eines Volkes an seine Geschichte
als die, welche Gesichter zeigt. Zwar vermögen es Politiker, Geschichte
zu gestalten, ob nun positiv oder negativ. Und Historiker können, wie
auch immer, Geschichte darstellen und interpretieren. Aber es sind die
Millionen und Abermillionen Menschen der Völker, die Geschichte erleben
und oft genug auch erleiden. Wohl alle Gesichter auf den alten Fotos,
die von den Teilnehmern der Moskauer Feier hoch und auch gerne vor die
Kameras des Fernsehens gehalten wurden, haben die Schrecken jenes
Krieges erlitten. Viele dieser Gesichter haben den Tag des Sieges nicht
mehr erlebt. Unter diesen Gesichtern waren zweifellos auch solche von
Männern, die im und nach dem Krieg gemordet und vergewaltigt haben. Und
es befanden sich Gesichter darunter, die ihre eigenen Landsleute bei
militärischen Aktionen rücksichtslos ins feindliche Feuer und in den Tod
geschickt haben. Doch die überwiegende Zahl dieser russischen Gesichter
hat den Krieg so erlebt und erlitten wie Millionen Soldaten der
Wehrmacht und deutsche Zivilisten: Als eine Zeit des täglichen Bangens
und Kampfes ums nackte Über- und Weiterleben.
Mit diesem Befund
soll keine Gleichstellung der sowjetrussischen mit der nazideutschen
Situation im Krieg erfolgen: Die einen haben ihr Land und ihren Staat
verteidigt und verteidigen müssen, die anderen haben es angegriffen mit
dem Ziel der Vernichtung und Unterjochung. Das ist ein Unterschied, der
bleibt und jeden echten deutschen Patrioten schmerzen muss. Die Russen
hätten, mit Ausnahme der Juden, mehr als jedes andere europäische Volk
Gründe genug, mit Blick auf die schrecklichen Geschehnisse des Krieges
mit Deutschland und den Deutschen zu hadern. Sie tun es erstaunlicher
Weise viel weniger als manche andere von Hitlers Krieg betroffene
Nation. Selbst der Massenmörder Stalin hat bekanntlich die in manchen
Kreisen noch immer kursierende Kollektivschuldthese abgelehnt. Dafür
könnten wir den Russen und Russland mehr Verbundenheit zeigen als unsere
politische Klasse das derzeit zu praktizieren pflegt. Doch das ist ein
anderes Thema.
Vor allem aber sollten wir von den Russen lernen,
dass ein Volk ohne positive Erinnerung auf Vergangenes keine Zukunft
haben wird. Die Deutschen haben die Anerkennung der ganzen Welt gewonnen
mit ihrem umfassenden Schuldbekenntnis und den daraus folgenden
moralischen und finanziellen Konsequenzen. Doch sie können und müssen
sich auch endlich ihrer Selbstheilung wegen in angemessener Weise an die
eigenen Opfer und Überlebenden jenes Krieges erinnern, der auch 70
Jahre nach seinem Ende vielfältig nachwirkt. Siegesfeste kann es hier zu
Lande selbstverständlich nicht geben. Und „Befreiungsfeiern“, wie sie
nun dank des links dominierten Zeitgeistes in Mode kommen, haben den
schalen Beigeschmack einer Geschichtsmanipulation.
In jenem Mai
1945 war Deutschland, wie es der erste Bundespräsident Heuss einst
formuliert hat, vielmehr „erlöst und vernichtet in einem“. Aber was
hindert die Deutschen daran, anlässlich des längst entleerten und
ritualisierten Volkstrauertags im trüben November überall zwischen
Flensburg und Konstanz im Jahr 2015 an geeigneten Orten zusammen zu
kommen mit den familiär noch aufbewahrten Bildern derjenigen Frauen,
Männer und Kinder, die im Krieg gefallen, in Gefangenschaft gestorben,
im Bombenhagel verbrannt, auf der Flucht getötet wurden oder einfach nur
überlebt und das zerstörte Land wieder aufgebaut haben?
Ich
würde an diesem Tag das Bild meines Onkels zeigen, der in der
Neujahrsnacht 1942/43 an Bord eines versenkten Kriegsschiffs im Eismeer
den Tod mit erst 19 Jahren erlitt. Es gibt keinen Grund, das Bild dieses
braven Dorfjungen, der so unschuldig wie unfreiwillig das größte Opfer
für eine verbrecherische Staatsführung brachte, zu verheimlichen. Und es
gibt auch in Deutschland unzählige solcher Bilder und Gesichter, an die
wir uns wenigstens einmal im Jahr öffentlich erinnern sollten, wenn wir
als Volk und Kultur eine Zukunft beanspruchen wollen. Wir können diese
Bilder gewiss nicht mit dem Stolz der Russen auf ihre siegreichen
Vaterlandsverteidiger, die dann allerdings Eroberer wurden, in die Höhe
halten. Aber wir müssen die Gesichter der deutschen Opfer und
Überlebenden des Krieges auch nicht schamvoll verbergen. Niemand, da bin
ich mir seit den Bildern aus Moskau sicher, würde dieses nachträgliche
Bekenntnis zu denen, die so viel weniger Glück hatten als wir
nachgeborenen deutschen Generationen, besser verstehen als die Menschen
in Russland.
Wolfgang Hübner