Gedanken beim Anblick der Moskauer Feiern am 9. Mai

Die Gesichter der Vergangenheit sind unsere Herkunft

Gedanken beim Anblick der Moskauer Feiern am 9. Mai
© Bernd.Brincken („Den Pobedy Veteranen IMG 0618 b1“), Creative Commons Wikipedia


Wer sich in unseren Medien über den Ablauf der russischen Feiern anlässlich des 70. Jahrestages des Sieges über Nazi-Deutschland in Moskau informierte, hat in der Regel von der großen Militärparade, einer Putin-Rede und der demonstrativen Abwesenheit etlicher Staats- und Regierungschefs aus dem Westen erfahren. In ganz wenigen dieser Berichte wurde nebenbei auch die überwältigende Beteiligung der Bevölkerung jener Stadt erwähnt, die 1941 beinahe von der Wehrmacht erobert worden wäre. Doch nur, wer die Übertragung der Moskauer Feierlichkeiten im russischen Fernsehen mitverfolgen konnte, vermag wirklich zu begreifen, dass da keineswegs eine abgekartete gigantische Propagandaschau postsowjetischen Stils inszeniert wurde, sondern das Fest eines Volkes, das mit Stolz und Trauer auf einen mit über 20 Millionen Opfern bitter errungenen Sieg zurück blickt und sich an diesem Tag der eigenen Geschichte und Herkunft vergewissert.

Was mich beeindruckte, waren gewiss nicht die Bilder zackig marschierender Soldaten, nicht die präsentierten modernsten Raketen und Panzer, auch nicht die spektakulären Aufnahmen der über den Roten Platz donnernden Kampfflugzeuge. Vielmehr bewirkten das die fröhlich und offensichtlich freiwillig über den Platz ziehenden Massen von Frauen, Männern und Kindern aller Altersstufen. Da ich weder russisch spreche noch verstehe, konnte ich mich unbeeinflusst von den Kommentaren der Reporter vor Ort oder den Aussagen der vielen interviewten Teilnehmer des Volksaufmarschs vollständig auf die Bilder in Moskau konzentrieren. Fast alle diese Menschen, ob Mann oder Frau, ob Greis oder Kind, führten Fotos jener Familienmitglieder mit, die im Krieg gegen die Deutschen gefallen sind, als Gefangene starben oder mit Orden belohnt überlebt hatten. Es waren bis auf wenige Ausnahmen Fotos von Menschen, die nicht mehr leben, aber an diesem Tag von ihren Nachfahren wieder verlebendigt wurden.

Es gibt keine sympathischere Erinnerung eines Volkes an seine Geschichte als die, welche Gesichter zeigt. Zwar vermögen es Politiker, Geschichte zu gestalten, ob nun positiv oder negativ. Und Historiker können, wie auch immer, Geschichte darstellen und interpretieren. Aber es sind die Millionen und Abermillionen Menschen der Völker, die Geschichte erleben und oft genug auch erleiden. Wohl alle Gesichter auf den alten Fotos, die von den Teilnehmern der Moskauer Feier hoch und auch gerne vor die Kameras des Fernsehens gehalten wurden, haben die Schrecken jenes Krieges erlitten. Viele dieser Gesichter haben den Tag des Sieges nicht mehr erlebt. Unter diesen Gesichtern waren zweifellos auch solche von Männern, die im und nach dem Krieg gemordet und vergewaltigt haben. Und es befanden sich Gesichter darunter, die ihre eigenen Landsleute bei militärischen Aktionen rücksichtslos ins feindliche Feuer und in den Tod geschickt haben. Doch die überwiegende Zahl dieser russischen Gesichter hat den Krieg so erlebt und erlitten wie Millionen Soldaten der Wehrmacht und deutsche Zivilisten: Als eine Zeit des täglichen Bangens und Kampfes ums nackte Über- und Weiterleben.

Mit diesem Befund soll keine Gleichstellung der sowjetrussischen mit der nazideutschen Situation im Krieg erfolgen: Die einen haben ihr Land und ihren Staat verteidigt und verteidigen müssen, die anderen haben es angegriffen mit dem Ziel der Vernichtung und Unterjochung. Das ist ein Unterschied, der bleibt und jeden echten deutschen Patrioten schmerzen muss. Die Russen hätten, mit Ausnahme der Juden, mehr als jedes andere europäische Volk Gründe genug, mit Blick auf die schrecklichen Geschehnisse des Krieges mit Deutschland und den Deutschen zu hadern. Sie tun es erstaunlicher Weise viel weniger als manche andere von Hitlers Krieg betroffene Nation. Selbst der Massenmörder Stalin hat bekanntlich die in manchen Kreisen noch immer kursierende Kollektivschuldthese abgelehnt. Dafür könnten wir den Russen und Russland mehr Verbundenheit zeigen als unsere politische Klasse das derzeit zu praktizieren pflegt. Doch das ist ein anderes Thema.

Vor allem aber sollten wir von den Russen lernen, dass ein Volk ohne positive Erinnerung auf Vergangenes keine Zukunft haben wird. Die Deutschen haben die Anerkennung der ganzen Welt gewonnen mit ihrem umfassenden Schuldbekenntnis und den daraus folgenden moralischen und finanziellen Konsequenzen. Doch sie können und müssen sich auch endlich ihrer Selbstheilung wegen in angemessener Weise an die eigenen Opfer und Überlebenden jenes Krieges erinnern, der auch 70 Jahre nach seinem Ende vielfältig nachwirkt. Siegesfeste kann es hier zu Lande selbstverständlich nicht geben. Und „Befreiungsfeiern“, wie sie nun dank des links dominierten Zeitgeistes in Mode kommen, haben den schalen Beigeschmack einer Geschichtsmanipulation.

In jenem Mai 1945 war Deutschland, wie es der erste Bundespräsident Heuss einst formuliert hat, vielmehr „erlöst und vernichtet in einem“. Aber was hindert die Deutschen daran, anlässlich des längst entleerten und ritualisierten Volkstrauertags im trüben November überall zwischen Flensburg und Konstanz im Jahr 2015 an geeigneten Orten zusammen zu kommen mit den familiär noch aufbewahrten Bildern derjenigen Frauen, Männer und Kinder, die im Krieg gefallen, in Gefangenschaft gestorben, im Bombenhagel verbrannt, auf der Flucht getötet wurden oder einfach nur überlebt und das zerstörte Land wieder aufgebaut haben?

Ich würde an diesem Tag das Bild meines Onkels zeigen, der in der Neujahrsnacht 1942/43 an Bord eines versenkten Kriegsschiffs im Eismeer den Tod mit erst 19 Jahren erlitt. Es gibt keinen Grund, das Bild dieses braven Dorfjungen, der so unschuldig wie unfreiwillig das größte Opfer für eine verbrecherische Staatsführung brachte, zu verheimlichen. Und es gibt auch in Deutschland unzählige solcher Bilder und Gesichter, an die wir uns wenigstens einmal im Jahr öffentlich erinnern sollten, wenn wir als Volk und Kultur eine Zukunft beanspruchen wollen. Wir können diese Bilder gewiss nicht mit dem Stolz der Russen auf ihre siegreichen Vaterlandsverteidiger, die dann allerdings Eroberer wurden, in die Höhe halten. Aber wir müssen die Gesichter der deutschen Opfer und Überlebenden des Krieges auch nicht schamvoll verbergen. Niemand, da bin ich mir seit den Bildern aus Moskau sicher, würde dieses nachträgliche Bekenntnis zu denen, die so viel weniger Glück hatten als wir nachgeborenen deutschen Generationen, besser verstehen als die Menschen in Russland.  


Wolfgang Hübner

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